27. Zwischenruf: Erich Marks im Gespräch mit Prof. Dr. Bernd Maelicke

Prof. Dr. Bernd Maelicke
Deutsches Institut für Sozialwirtschaft
Erich Marks
DPT – Deutscher Präventionstag

Heute ist Mittwoch, der 10. Juni 2020. Ich bin Erich Marks und als Geschäftsführer des Deutschen Präventionstages freue ich mich über Ihr Interesse an unseren Zwischenrufen zur Prävention in Zeiten der Corona-Epidemie und von COVID-19.
Zum heutigen Zwischenruf begrüße ich am Telefon den Juristen und Sozialwissenschaftler Professor Dr. Bernd Maelicke. In seinen zentralen  beruflichen Stationen war er Leiter der Fortbildungsabteilung beim Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge, Direktor des Instituts für Sozialarbeit und Sozialpädagogik in Frankfurt, Ministerialdirigent im Justizministerium des Landes Schleswig-Holstein sowie Gründer des Institutes für Sozialwirtschaft in Lüneburg.
Herr Maelicke, ich begrüße Sie herzlich, danke Ihnen für Ihre Bereitschaft zu diesem Zwischenruf und darf Sie zunächst fragen, welche Herausforderungen für die Gewalt- und Präventionsarbeit Ihnen vor dem Hintergrund der Corona-Krise besonders wichtig erscheinen.

Derzeit und auch in absehbarer Zukunft dominiert das Thema „Corona und die Folgen“ den Alltag der Bürger und in allen Politikfeldern auch die Entscheidungsprozesse in einer bisher völlig unbekannten Dimension. Die tödliche und globale   Bedrohung durch den Virus Covid 19 verdrängt in ihrer Bedeutung selbst fundamentale Krisen wie die ungelöste Flüchtlingsfrage, den Klimawandel oder den weltweiten Rassismus. Unbegrenzte Kreditaufnahmen und Verschuldungen der öffentlichen Haushalte werden auf Jahrzehnte unsere Kinder und Enkel belasten – wie sich die Zukunft gestaltet oder gestalten lassen wird, ist völlig ungewiss.
Täglich erleben die Bürger die staatlichen Restriktionen durch das Abstandsgebot, die Maskenpflicht, die Einschränkungen in Kitas, in Schulen oder in Senioreneinrichtungen. Demokratische Grundfragen wie Eingriffe in Grundrechte oder Art und Umfang der Mitwirkung der Parlamente werden zurück-gestellt und bedürfen „nach Corona“ der kritischen Aufarbeitung. 
Der alte Verwahrvollzug lebt wieder auf: Diese unsicheren Rahmenbedingungen belasten auch die Situation in den 180 Gefängnissen mit ca. 65.000 Gefangenen in U-Haft und Strafhaft in Deutschland. Schulische und berufliche Qualifizierung, Soziales Training, Therapien für Sexual- und Gewalttäter, Sport- und Freizeitangebote, Gottesdienste, Besuche, Offener Vollzug und Freigänge werden in großem Umfang eingeschränkt. Der moderne Behandlungsvollzug, wie er in den neuen Vollzugsgesetzen der Bundesländer festgeschrieben wurde, wird schrittweise reduziert, der alte Verwahrvollzug aus dem letzten Jahrhundert lebt wieder auf. Diese Einschränkungen fallen den Anstalten und den Ministerien außerordentlich schwer, aber die Gesundheit der Bediensteten und der Gefangenen und die Sicherheit und Ordnung haben hohe Priorität.  Von Corona  bedroht sind vor allem ältere Beamte, dies verschärft die eh schon belastete Personalsituation.
Die Öffentlichkeit und die Medien interessieren sich für diese Problematik hinter den Mauern wenig.   Umfragen zeigen, dass in der Gesellschaft die Furcht vor Kriminalität durch andere Ängste abgelöst wurde. Dramatische Einzelfälle finden zwar immer noch großes mediales Interesse, führen aber nicht zu grundlegenden Veränderungen in der Praxis oder in den Partei- oder Regierungsprogrammen. Kriminal- und Justizpolitik sind nachrangig geworden.
In lebensbedrohenden Krisensituationen mit ungewissem Ausgang setzen die Bürger mit absoluter Priorität auf Sicherheit, wollen weitere Risiken soweit irgend möglich vermeiden. Und Politiker, die mit der Bewältigung fundamentaler Krisen extrem herausgefordert sind, wollen in erster Linie wiedergewählt und nicht mit zusätzlichen und komplexen Themen konfrontiert werden.

Was ist das zentrale Anliegen Ihres heutigen Zwischenrufes?

Der Flickenteppich der stationären und ambulanten Resozialisierung: Heribert Prantl konstatiert in seinem Beitrag zum Pfingstfest 2020: „Die Föderalismusreform hat die Wissenschaft vom Strafvollzug marginalisiert – und sie hat die gesellschaftliche Debatte über den Strafvollzug gekillt.“ Diese Reform aus dem Jahr 2006 hat  zu ca. 80 verschiedenen Ländergesetzen u.a. zum Jugendarrest, zum Jugendstrafvollzug, zur Untersuchungshaft und zum Erwachsenenvollzug geführt – sie hat eine „neue Unübersichtlichkeit“ (Frank Neubacher, 2020) bewirkt, die  Einheitlichkeit des Rechts- und Sozialstaats  Deutschland  ist grundlegend in Frage gestellt.  Der versprochene föderale „Wettbewerb der Konzepte“ hat nicht stattgefunden, Zwischenergebnis ist ein löchriger Flickenteppich. Und Corona verschärft zusätzlich diese strukturellen Probleme.
Für die ambulante Resozialisierung existiert dieses „Verwirrsystem“ bereits seit den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts.  Rechtliche Grundlagen, Organisationsfragen, Fallzahlen und Fallsteuerung der Gerichtshilfe, der Bewährungshilfe und der Führungsaufsicht  sind trotz bundesweit gleichermaßen  geltenden gesetzlichen Grundlagen in der StPO und im StGB in den jeweiligen Bundesländern  höchst unterschiedlich geregelt – z.Zt. betrifft dies insgesamt ca. 250.000 Probanden ( genaue Zahlen im Ländervergleich werden nicht erhoben ).  Das Klientel der Bewährungshilfe entspricht in vielen Merkmalen durchaus den Gefangenen im Strafvollzug, die Rückfallquoten sind allerdings  nur halb so hoch   – allein diese seit Jahrzehnten bekannten Daten verlangen grundlegende  Reformen im Gesamtsystem der ambulanten und stationären Resozialisierung.
Die Marginalisierung der Vollzugswissenschaft und der Tod der öffentlichen Debatte haben dazu geführt, dass die Löcher im bundesweiten Flickenteppich der Resozialisierung immer grösser werden, dazu nur ein Beispiel:   die Gefangenenraten in den Ländern entwickeln sich immer weiter auseinander.  Schleswig-Holstein ist es gelungen, die Belegungszahlen auf unter 40 pro 100.000 der Bevölkerung dauerhaft zu reduzieren (das ist etwa die Hälfte des Bundes-Durchschnitts).  Die gewollte Folge ist, dass dadurch weniger Gefangene mit den bekannt hohen Rückfallrisiken entlassen werden – weniger Gefangene bedeuten weniger Entlassene bedeuten weniger Rückfälle.  Zusätzlich werden so die hohen Kosten der stationären Freiheitsentziehung (pro Tag ca. 130 EUR aufwärts) gespart. Das eröffnet finanzielle Spielräume zum Ausbau der Bewährungshilfe und zur Förderung der Freien Straffälligenhilfe – sie hat besondere Möglichkeiten, die Soziale Integration nach der Entlassung wirksam zu begleiten. 
Ähnliche Beispiele sind die divergierenden Quoten im Offenen Vollzug, Freigang, Urlaub und Ausgang, sie unterscheiden sich in den Ländern zum Teil bis zum Zehnfachen. Gleiches gilt für die bedingten Entlassungen auf Bewährung, die wiederum die Chancen einer rückfallfreien Eingliederung nach der Entlassung grundlegend verbessern.  Auch das sog. Übergangsmanagement bedarf  dringend der gesetzlichen, organisatorischen und finanziellen Absicherung.  Leuchtturmprojekte reichen nicht aus, wenn jeder Entlassene vor und nach der Entlassung systematisch vorbereitet und begleitet werden soll. Nur im Saarland und in Hamburg gibt es entsprechende Landes-Resozialisierungsgesetze, in den anderen Ländern muss Fehlanzeige festgestellt werden. 
Und auch die höchst unterschiedlichen laufenden Ausgaben in den Ländern pro Jahr und pro Gefangenen   verstärken den Befund eines strukturellen Legitimations- und Steuerungsproblems: Wodurch rechtfertigen sich diese großen Differenzen? Werden die öffentlichen Haushaltsmittel an den richtigen (wirksamsten) Stellen der Wertschöpfungskette Resozialisierung eingesetzt? Warum gibt es kein unabhängiges Bundesinstitut, das nachhaltig und wirkungsorientiert Qualität und Kosten der ambulanten und stationären Resozialisierung kontrolliert?

Am 22. Juni d.J. erscheint im Nomos-Verlag ihr neues Buch unter dem Titel „Resozialisierung und Systemischer Wandel“. Können Sie uns als Appetithäppchen schon einen zentralen Gedanken vorab verraten?
Systemischer Wandel und „Große Transformation“: In den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts begann für den deutschen Strafvollzug die Neuzeit – wie wurde damals der Reformprozess ermöglicht? Es gab zahlreiche Fachkommissionen der Verbände, der Parteien, der Kirchen, des Bundesjustizministeriums, es gab Gesetzentwürfe von sog. „Alternativprofessoren“, es gab den internationalen Ergebnistransfer. Herausragende Länder- und Bundes-JustizministerInnen, auch Bundespräsident Gustav Heinemann und seine Ehefrau Hilda, engagierten sich persönlich. Die Medien setzten sich stark für die Reform ein.  Das Bundesstrafvollzugsgesetz trat am 1. 1. 1977 in Kraft, es wurde zuvor im Bundestag und Bundesrat mit großen Mehrheiten beschlossen. 

Bereits seit ihren Studienzeiten haben Sie sich mit Reformansätzen in der Kriminalpolitik befasst und gelten als anerkannter Experte im Arbeitsfeld der ambulanten und stationären Resozialisierung. Ihre Promotion hatte den Titel „Entlassung und Resozialisierung“. Welche politischen und strukturellen Chancen und Risiken sehen Sie derzeit für die Kriminalprävention?
Wir brauchen – und nicht erst nach Corona – wieder einen neuen Aufbruch in eine neue Zeit. Föderale Vielfalt allein reicht nicht aus, immerhin geht es um Wirkungsweise und Wirksamkeit von Grundrechtseingriffen, um Rückfallverhütung, um Opferschutz, um Reduzierung sozialer Folgeschäden, um sozialen Frieden in der Gesellschaft – alles Aufgaben des modernen Rechts- und Sozialstaats.
Gemessen an diesen Zielen ist das etablierte Reso-System weit von einer optimalen Wirkung entfernt. Es genügt nicht gleichsam naturwüchsig die weitere Entwicklung abzuwarten oder nur mit einzelnen Projekten und Initiativen kurzfristige Effekte erreichen zu wollen.
In Österreich, in der Schweiz und in Deutschland ist diese (selbst-) kritische Analyse weitgehend identisch. In diesen Ländern gibt es aktuelle  Experten-Memoranden für „Resoz-Masterpläne“, für „Reso-Agenden 2025“ und für „10 Gebote guter Kriminalpolitik“, die in hohem Maße überein-stimmen und sich länderübergreifend vernetzen wollen – auch verbunden  mit ähnlichen Überlegungen des  Rates der Europäischen Union.

Abschließend bitte ich Sie um eine kurze zusammenfassende Aussage zu Ihrem heutigen Anliegen
Dies könnten hoffnungsvolle Zeichen für einen „Systemischen Wandel“ und für den Beginn einer nationalen und internationalen „Große Transformation“ in der Reso-Politik sein. Es ist höchste Zeit für eine Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags „Zur Optimierung der ambulanten und stationären Resozialisierung“, unter Mitwirkung von Experten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“. (Friedrich Hölderlin, 1803 / 1808) 

Bernd Maelicke, haben Sie herzlichen Dank für diesen Zwischenruf und bleiben Sie gesund.

   


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