36. Zwischenruf: Erich Marks im Gespräch mit Prof. Dr. Andreas Beelmann

Prof. Dr. Andreas Beelmann
Friedrich-Schiller-Universität Jena
Erich Marks
DPT – Deutscher Präventionstag

Heute ist Dienstag, der 1. September 2020. Ich bin Erich Marks und als Geschäftsführer des Deutschen Präventionstages freue ich mich über Ihr Interesse an unseren Zwischenrufen zur Prävention.

Zum heutigen Zwischenruf begrüße ich am Telefon den Psychologen Prof. Dr. Andreas Beelmann.  Herr Beelmann ist Professor für Forschungssynthese, Intervention und Evaluation am Institut für Psychologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Direktor des dortigen Zentrums für Rechtsextremismusforschung, Demokratiebildung und gesellschaftliche Integration sowie  ein international renommierter Präventionsforscher.

Herr Beelmann, ich begrüße Sie herzlich, danke Ihnen für Ihre Bereitschaft zu diesem Zwischenruf zum Themenkomplex der Rolle von wissenschaftlichen Erkenntnissen in Praxis, Öffentlichkeit und Politik. Wir erleben in den zurückliegenden Wochen und Monaten eine starke Präsenz von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in den Medien. Ist das Interesse an Wissenschaft in der Gesellschaft im Zuge der Coronakrise gewachsen?

Das Interesse an Wissenschaft ist im Moment zweifellos groß und einzelne Experten haben einen enormen Bekanntheitsgrad erlangt. Das geht mit einem deutlichen Anstieg des Ansehens von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern einher, wie eine ganz aktuelle Studie des Allensbach-Instituts belegt: Wissenschaftler gehören demnach nach Ärzten und Richtern zu den vertrauenswürdigsten Berufsgruppen. Das ist aus unserer Sicht natürlich gut. Doch bei genauerer Betrachtung ergibt sich ein ambivalenteres Bild.

Inwiefern?
Nun, das aktuell deutlich gewachsene Ansehen von Wissenschaftlern bedeutet nicht unbedingt ein gewachsenes Vertrauen in wissenschaftlichen Erkenntnissen.  In der genannten Studie geben 37 Prozent der Befragten - also ein gutes Drittel - auch an, dass sie der Wissenschaft gegenüber misstrauisch eingestellt sind. Und - problematischer aus meiner Sicht - über die Hälfte der Befragten sagt, dass bei politischen Entscheidungen die Stimme der Wissenschaft nur eine von mehreren sein soll. Wissenschaftliche Expertise wird offenbar als Meinung gesehen, als eine Sichtweise, die zu berücksichtigen ist, zu der es aber Alternativen, nämlich andere Meinungen gibt. Das halte ich für ein gravierendes Problem und wird der Bedeutung von Wissenschaft nicht gerecht.

Sollten Wissenschaftler stärker in politische Entscheidungen einbezogen werden?
Wissenschaftler können keine politischen Entscheidungen treffen. Dafür haben sie kein Mandat. Aber ihre Stimme sollte deutlich mehr Gewicht haben, als die der Öffentlichkeit oder anderer Berufsgruppen. Wenn Sie sich beispielsweise das Bein brechen, gehen Sie zum Arzt und fragen nicht einen Schauspieler oder einen anderen Betroffenen, was er oder sie dazu meint. In ähnlicher Weise sollte man bei Fragen der Kriminalitätsprävention auf Basis von wissenschaftlichen Erkenntnissen entscheiden und nicht nach politischer oder öffentlicher Meinung. Das bedeutet natürlich nicht, dass es keine schlechten Ärzte oder Wissenschaftler gibt. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass sich aus professioneller Expertise wirksame Handlungsoptionen ergeben, ist doch um ein Vielfaches höher.

Man könnte argumentieren, Wissenschaftler müssten sich häufiger und vielleicht auch klarer zu Wort melden, um ihre Erkenntnisse in die politische Praxis und die Öffentlichkeit zu transferieren.
Was den Wissen- und Erkenntnistransfer angeht, muss man zwei Aspekte unterscheiden. Erstens die Sachebene, also wie Fachwissen in praktisches oder politisches Handeln übergeht. Wenn wir beispielsweise anraten, verstärkt soziale Trainingsprogramme, die evidenzbasiert sind, in Schulen und anderen Kontexten einzusetzen, dann könnte man den Erfolg des Transfers danach beurteilen, ob solche Programme tatsächlich dort eingesetzt werden. Der zweite Aspekt von Wissenschaftstransfer liegt auf einer Metaebene und basiert darauf, wie Politik, Praxis und Öffentlichkeit die Wissenschaft insgesamt sehen. Welche Vorstellung haben sie über Wissenschaft? Was verbinden sie mit dem Begriff Wissenschaft? Was halten sie von Wissenschaft? Und da gibt es deutliche Anzeichen dafür, dass es häufig falsche Wahrnehmungen gibt, aus denen Missverständnisse entstehen, oder gar abwertende Grundhaltungen. Und wenn ich von etwas nicht viel halte, ist es doch nur natürlich, dies nicht zur Grundlage meiner Handlungen zu machen. Insofern hat ein Teil von Transferproblemen auch mit negativen oder zumindest skeptischen Einstellungen gegenüber Wissenschaftlichkeit zu tun. Aber es ist wichtig, diese aus meiner Sicht unreflektierte Grundhaltung nicht mit der Kritik an wissenschaftlichen Befunden zu verwechseln. Informierte Kritik ist Kern wissenschaftlichen Arbeitens, nicht aber Abwertungen, die interessengeleitet sind.

Warum sprechen die Wissenschaftler dann nicht häufiger darüber wie ihre Arbeit funktioniert? Auf der Sachebene gibt es die Kommunikation durchaus, unter anderem auf den Präventionstagen oder etwa in unseren Transferprojekten mit dem Landespräventionsrat Niedersachsen. Auf der Metaebene findet ein Austausch bislang jedoch kaum statt. Nicht nur, weil eine solche Kommunikation anstrengend ist und viel Zeit braucht, die etwa Politiker oftmals nicht haben. Sondern es setzt natürlich voraus, dass man sich überhaupt dafür interessiert. Dass Befunde oftmals sehr differenziert diskutiert werden müssen, weil die Erkenntnisse sich eben nicht in kurzen Statements zusammenfassen lassen, wollen viele nicht hören, obwohl dies ein Kernmerkmal von wissenschaftlicher Evidenz ist. Summa summarum klappt der Transfer in der Prävention gerade bei politischen Entscheidungsprozessen auch aus diesen Gründen nicht besonders gut.

Zum Beispiel?
In der Prävention lässt sich seit Jahrzenten beobachten, dass es immer erst zur Katastrophe kommen muss, bis auf politischer Seite in Prävention investiert wird. In Thüringen sind zum Beispiel erst dann Schulpsychologen verstärkt eingestellt worden, nachdem es 2002 am Erfurter Gutenberg-Gymnasium zu einem Massaker gekommen ist. Inzwischen sind diese Stellen jedoch schon wieder deutlich reduziert worden. Ähnliches kann man in der Radikalisierung feststellen. Die Probleme sind aktuell groß und werden viel diskutiert. Es werden jedoch teilweise Projekte und Programme finanziert, die politisch motiviert sind und denen eine wissenschaftliche und evidenzbasierte Fundierung gänzlich fehlt. Außerdem wird seit Jahren „Projektitis“ betrieben und keine nachhaltigen Strukturen aufgebaut. Dass dies zu strategischen Antragstellungen und wenig selbstkritischer Grundreflexion in der Praxis führt, ist nur verständlich. Und dann erlebt man wissenschaftliche Expertise oft als hinderlich.

Wie ließen sich denn wissenschaftliche Erkenntnisse besser und nachhaltiger in die Öffentlichkeit, Praxis und Politik transferieren?
Es gibt sicherlich kein Patentrezept. Außerdem muss der Transfer danach unterschieden werden, ob die Praxis, die Politik oder die Öffentlichkeit gemeint ist. Grundsätzlich kann es aus meiner Sicht nur funktionieren, wenn alle Akteure sich an der Kommunikation beteiligen. In der Praxis klappt das in einigen Beispielen schon sehr gut, wenn der Kontakt zwischen Wissenschaftler*innen und Praktiker*innen durch Transferstellen wie etwa den Landespräventionsräten vermittelt wird. Skeptischer bin ich hingegen, was den Transfer in die Politik und die Medien betrifft. Journalisten unterliegen einem ungeheuren Produktionsdruck. Sie brauchen einfache Botschaften, die sich in einer Minute unterbringen oder in einer Schlagzeile formulieren lassen. Und das funktioniert mit komplexen wissenschaftlichen Themen in der Regel nicht. Dafür braucht es Spezialisten, Wissenschaftsjournalisten, die kompetent und unabhängig berichten und nicht nur spektakuläre Ergebnisse aufgreifen, sondern Wissen vermitteln und einordnen. Aber um eben diesen Wissenschaftsjournalismus ist es derzeit aus meiner Sicht nicht gut bestellt. An ihre Stelle sind unzählige Talkshows getreten, in denen Wissenschaftler neben Prominenten aus Politik und Showbusiness gelegentlich als eine Stimme unter vielen auftreten. Wie eingangs schon gesagt, wissenschaftliche Expertise ist keine Meinung, die gleichgewichtig zu anderen Meinungen steht.

Und wie sieht es in der Politik aus?
Politiker*innen müssten all die wissenschaftlichen Gutachten und Empfehlungen von Expertengremien, die sie oft genug selbst in Auftrag geben und finanziell fördern, irgendwann auch umsetzen. Das passiert erstaunlich selten. Ich habe an etlichen Auftragsstudien mitgearbeitet, die in irgendeiner Schublade verschwunden sind, weil sich die politische Situation geändert hat und etwas Anderes opportun wurde. Es ist schon länger bekannt, übrigens auch international, dass politische Entscheidungsträger wissenschaftliche Erkenntnisse vor allem selektiv berücksichtigen, und zwar vorrangig solche, die ihren Interessen dienen. Das bedeutet, dass die politisch Verantwortlichen auch bereit sein müssten, sich gegen parteipolitische oder andere Interessen zu entscheiden, wenn es wissenschaftliche Gründe dafür gibt. Und es ist ihre Pflicht, sich im Dienste der Bevölkerung zu informieren, und nicht die Pflicht der Wissenschaftler*innen, ihnen mit Ergebnissen hinterher zu laufen, die sie eigentlich nicht hören wollen.

Wie könnten Wissenschaftler*innen selbst zu Verbesserungen beitragen?
In erster Linie natürlich gute Forschungsarbeit leisten. Nicht jede wissenschaftliche Arbeit ist qualitativ hochwertig. Ein wichtiger Ansatz, den ich auch in meiner eigenen Arbeit schon lange verfolge, ist die Zusammenfassung von Einzeluntersuchungen in Metastudien. Es ist bekannt, dass es in unterschiedlichen Studien zum gleichen Thema auch unterschiedliche Ergebnisse geben kann. Metastudien helfen, diese Varianz einzuordnen, was auch bei der Vermittlung in die Öffentlichkeit hilft. Außerdem erzielt man nach meinen Erfahrungen eine deutlich höhere Resonanz, wenn man den Kenntnisstand zu einer Frage systematisch zusammenträgt, als wenn man mit einer - oftmals selektiv ausgewählten - Studie daherkommt. Es findet sich immer eine andere Studie mit widersprechenden Ergebnissen. Einzelergebnisse sind von daher nur bedingt aussagekräftig und zuverlässige Handlungsempfehlungen für die Praxis und Politik können meines Erachtens nur aus einer Gesamtschau der Befunde und durch wiederholte Bestätigung von Ergebnissen abgeleitet werden.

 

Herr Beelmann, haben Sie herzlichen Dank für diesen Zwischenruf und bleiben Sie gesund.

  

Professur für Forschungssynthese, Intervention und Evaluation der Universität Jena

Zentrum für Rechtsextremismusforschung, Demokratiebildung und gesellschaftliche Integration

 

 


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