Der 15. Deutsche Präventionstag fand am 10. & 11. Mai 2010 erstmalig in der Hauptstadt Berlin statt. Die Schirmherrschaft hatte der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit übernommen. Das Schwerpunktthema lautete „Bildung – Prävention – Zukunft“. Ort der Veranstaltung und des Abendempfanges war das Internationale Congress Centrum Berlin (ICC), das mittlerweile schon Geschichte ist.
25 Jahre Deutscher Präventionstag
Ein Beitrag von Prof. Dr. Herbert Scheithauer
Professor für Entwicklungs- und Klinische Psychologie an der Freien Universität Berlin; Präventionsforscher und Entwickler verschiedener Präventionsprogramme
Wir blicken gemeinsam auf 25 Jahre Gewalt- und Kriminalprävention zurück. Wie hat sich dieses Fachgebiet in dieser Periode insgesamt verändert? Was wurde erreicht? Lassen sich rückblickend Konjunkturen bestimmter Debatten erkennen?
In den letzten 25 Jahren ist erfreulicherweise zunehmend ein Anschluss an internationale Standards in der Gewalt- und Kriminalitätsprävention in Deutschland zu beobachten. Und Erkenntnisse, Maßnahmen usw. aus Deutschland werden auch vermehrt im internationalen Kontext wahrgenommen oder sogar ange- bzw. übernommen. Während die Erforschung von Gewalt und Kriminalität lange Zeit eine Domäne der Soziologie oder Sozialpsychologie gewesen ist, beschäftigen sich zunehmend auch andere Fachrichtungen, wie zum Beispiel die Klinische und Entwicklungspsychologie, weitere Sozialwissenschaften aber auch – im Sinne eines biopsychosozialen Verständnisses – z.B. die Neurowissenschaft mit der Thematik. In den letzten 25 Jahren hat sich zunehmend differenziert, WAS wir unter Gewalt und Kriminalität verstehen – als Beispiel sei hier die Mobbingforschung erwähnt, die immer differenzierter unterschiedliche Formen von Mobbing thematisiert hat. Als Entwicklungspsychologe bin ich erfreut über das zunehmende Verständnis von Gewalt und Kriminalität als einem Lebensspannenphänomen – sowohl die Entwicklung zu kriminellem und gewalttätigem Verhalten, als auch damit die notwendige Gestaltung von Präventions- und Interventionsmaßnahmen sind aus einer Entwicklungsperspektive besser zu verstehen.
Damit hat sich auch eine international ausgerichtete und differenzierte Präventionslandschaft in Deutschland etabliert, flankiert von der Orientierung an internationalen Standards, z.B. Wirksamkeitsevaluierung mit Hilfe kontrollierter Studien oder z.B. der Qualitätssicherung in der Umsetzung von Maßnahmen. Es haben sich Maßnahmen zur entwicklungsorientierten Gewalt- und Kriminalitätsprävention etabliert, die nicht nur problematische Outcomes „prävenieren“ wollen, sondern zugleich im Kindes- und Jugendalter wichtige Kompetenzen (z.B. soziale Kompetenzen) fördern, die nicht nur Risikofaktoren für Gewalt und Kriminalität avisieren, sondern auch verstärkt Schutzfaktoren ansprechen. Eine Umsetzung und Abstimmung (z.B. Communities that Care) der Präventionsmaßnahmen in unterschiedlichen Lebenswelten, wie Kita, Schule, Gemeinde (Community), Prävention in Präventionsketten usw. sind positiv zu nennende Veränderungen in den letzten beiden Dekaden. Zunehmend sind in den Lebenswelten Kita und Schule Akteure hinzugekommen, die bei der Präventionsarbeit unterstützen (z.B. Schulsozialarbeiter*innen), zunehmend haben sich Pädagog*innen zu Multiplikator*innen in der Umsetzung von Präventionsmaßnahmen in Bildungseinrichtungen Fort- und Ausbilden lassen. Schließlich ist erfreulich, dass eine fachliche „Institutionalisierung“ und damit auch Professionalisierung der Präventionslandschaft stattgefunden hat: Herausragende Aktivitäten des Deutschen Forums für Kriminalprävention (DFK), die Etablierung des Nationalen Zentrums für Kriminalprävention (NZK), die Etablierung der „Grünen Liste Prävention“ und nicht zuletzt auch die wichtigen Aktivitäten rund um den Deutschen Präventionstag sind hier stellvertretend für andere positive Entwicklungen hervorzuheben.
Der 15. DPT hatte das Schwerpunktthema „Bildung – Prävention – Zukunft“. Was ist damals nach Ihrer Einschätzung der Anlass für diese Themensetzung gewesen? Worum drehte sich die Debatte im Wesentlichen?
Meines Erachtens – und dies hat ja auch Niederschlag in der Berliner Erklärung gefunden – wurde zunehmend deutlich, welche Rolle Bildung und Qualifizierung bei der Entstehung von Gewalt und Kriminalität spielt, aber auch in der und für die erfolgreiche Prävention. Zudem wurde auf die Bedeutung der sozialen Herkunft und auf den Bildungserfolg hingewiesen: „In Deutschland wird der Bildungserfolg jedoch in hohem Maß von Schicht und Herkunft bestimmt. Einkommens-, Bildungs- und Integrationsarmut, die Erfahrung sozialer Ungerechtigkeit und sozialen Ausschlusses können Kriminalität, insbesondere Gewaltkriminalität begünstigen. Bildungsgerechtigkeit, gleiche Chancen beim Zugang zu Bildung, sind deshalb auch ein Beitrag zur Prävention von Gewalt und Kriminalität“ (Berliner Erklärung).
Ist dieses Thema auch heute noch aktuell? Findet sich ein roter Faden, der sich auch heute noch aufnehmen lässt?
Leider sind diese Themen, wie sie auf dem Deutschen Präventionstag 2010 thematisiert und in der zugehörigen Berliner Erklärung deutlich formuliert wurden, nach wie vor aktuell und vielleicht sogar noch aktueller. Nach wie vor ist hier die Politik gefragt, übergeordnet und langfristig an Lösungen zu arbeiten, die m.E. mit „einfachen“ Präventionsmaßnahmen alleine nicht zu erbringen sind. Es wäre somit eine Verschränkung der unterschiedlichen Zuständigkeiten (z.B. die verschiedenen Ressorts der Bundesministerien, Bund und Länder) notwendig, um sinnvolle Lösungen unabhängig von Partei- und Ressortzugehörigkeit zu erwirken. Nach wie vor macht sich bei mir der Eindruck breit, dass zwar die Probleme auch schon 2010 klar benannt wurden, sich jedoch nicht wirklich dieser Sache angenommen wird. Eine sozialpolitische Schaufensterpolitik wird damit zu gesellschaftlichen Nischenbildungen, Abgrenzungsphänomenen und langfristigen Verhärtungen der Probleme beitragen, wie wir dies ja in unterschiedlichen Phänomenen der letzten Jahre auch beobachten können.
Was sind aus Ihrer Sicht die aktuell wichtigen Themen und Herausforderungen für die Prävention?
Nachdem nun verstanden wurde, dass (insbesondere flächendeckend umzusetzende) Präventionsmaßnahmen zunächst einen Wirksamkeitsnachweis brauchen, müssen wir uns verstärkt mit den Bedingungen beschäftigen, die eine gelingende Umsetzung (z.B. Qualitätssicherung) im Feld bestimmen – ein reiner Wirksamkeitsnachweis sagt nichts über die Wirkung unter realen Bedingungen, im Feld, aus. Erkenntnisse aus der Prevention Science, z.B. zur Bereitschaft in Kommunen und Bildungseinrichtungen, überhaupt Maßnahmen als relevant zu erachten und umzusetzen, müssen bei der Umsetzung von Maßnahmen bedacht werden. Ebenso brauchen wir gute Konzepte, um mit möglichen Umsetzungsbarrieren – auf gesellschaftlicher, aber auch auf individueller oder institutioneller Ebene – umzugehen. So ist es verwunderlich, dass beispielsweise die Förderung sozialer Kompetenzen in allen mir bekannten Landesschulgesetzen als wichtiger Kompetenzbereich genannt wird, Lehrkräfte aber nach wie vor nicht in der grundständigen Lehrkräftebildung darin ausgebildet werden und nicht jede Bildungseinrichtung über „selbstverständliche“ Fördermaßnahmen verfügt. Wir müssen uns stärker mit den genauen Wirkmechanismen der Maßnahmen beschäftigen (Core Elements), mit iatrogenen Effekten, und auch entschieden entbehrliche Maßnahmen aus dem Kanon der regelmäßig umzusetzenden Maßnahmen entfernen. Stärker noch muss eine Umsetzung von Maßnahmen sich an wirksamkeitsevaluierten und qualitätsgesicherten Ansätzen orientieren. Somit könnten geringe finanzielle aber auch zeitliche Ressourcen optimal genutzt werden. Die Erfolge der letzten Dekaden, die z.B. – meiner Meinung nach – auch zu einem Rückgang an Gewaltkriminalität und Gewalt beispielsweise in Schulen, zu einer erhöhten Sensibilität geführt haben, laufen nun schlimmsten Falls Gefahr ins Wanken zu geraten, da beispielsweise der Lehrkräftemangel oder der Mangel an Erzieher*innen unter Umständen mit Rückschritten in der Qualifizierung von Pädagog*innen in der Umsetzung von Präventionsmaßnahmen führen könnte – schlichtweg aus Mangel an Ressourcen. Und ich muss nicht sagen, dass die aktuelle, seit 2020 bestehende Pandemiesituation sicherlich diese Entwicklung negativ unterstützen wird.
Welche strategische Ausrichtung würden Sie abschließend für die nächsten 25 Jahre Präventionsarbeit in Deutschland und Europa empfehlen?
Desiderata für die zukünftige Präventionsarbeit in Deutschland sind m.E. u.a. darin zu sehen, stärker entwicklungsorientiert vorzugehen und die insbesondere für die Outcomebereiche „Gewalt“ und „Kriminalität“ unschöne Trennung von universeller, indizierter und selektiver Prävention, Entwicklungs- und Kompetenzförderung sowie Gesundheitsförderung aufzubrechen, und stattdessen im Sinne einer Synthese dieser Konzepte und Ansätze, Maßnahmen zu entwickeln und umzusetzen. Dafür wäre es wichtig, auch im Sinne der Ressourcenbündelung, in den verschiedenen Lebenswelten und auf Gemeindeebene übergeordnete Konzepte zu erarbeiten und anzugehen, die auch mit der verbesserten Qualifikation der Akteure (z.B. grundständige Lehrkräftebildung, Ausbildung von Erzieher*innen) einhergehen muss. So wären flächendeckende Angebote denkbar, die sich einerseits an wirksamkeitsevaluierten, qualitätsgesicherten Ansätzen orientieren, andererseits aber auch auf die individuellen Problemlagen und Bedürfnisse der jeweiligen Gemeinde bzw. Einrichtung eingehen können. So können fachlich professionalisierte Netzwerke entstehen, die Institutionen und Akteure miteinander verbinden (z.B. in allen Schulen schulische Krisenpräventionsteams, verbunden mit Akteuren in der Schulpsychologie, Jugendsozialarbeit usw.) oder z.B. stärker Prävention und Intervention (z.B. im Bereich des Schulmobbings) miteinander verknüpfen. Natürlich müssen neue Probleme und Phänomene bedacht und einbezogen werden: Radikalisierung, Cybermobbing, überhaupt Phänomene, die im Zusammenhang mit Neuen Medien neue Formen von Kriminalität und Gewalt hervorbringen. Eine zunehmende Digitalisierung wird es notwendig machen, dass auch alle Akteure im Bereich der Gewalt- und Kriminalitätsprävention zunehmend über entsprechende Kompetenzen, Ressourcen und digitale Souveränität verfügen müssen.