Gesamtgesellschaftliche Kriminalpräventionn
02/04 November 1999
  • 610 Kongressteilnehmende und Besucher*innen
  • 100  Referierende
  • 25 Vorträge und 21 Workshops
  • 76 Ausstellungsbeiträge (Infostände, Infomobile, Film, Poster)
  • Theater- und Musikveranstaltungen
  • Streetballturnier
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Die sächsische Stadt Hoyerswerda war am 2. & 3. November 1999 Austragungsort des 5. Deutschen Präventionstages. „Gesamtgesellschaftliche Kriminalprävention – Projekte, Entwicklungen, Perspektiven“ – dies war das Oberthema, zu dem sich die Präventionsfachleute in der dortigen Lausitzhalle austauschten.

25 Jahre Deutscher Präventionstag
Ein Beitrag von Ingo Siebert

Sozialpädagoge, Stadtsoziologe und Präventionsmanager; Leiter der Geschäftsstelle der Landeskommission Berlin gegen Gewalt

1999 – Im Jahr der Aufbrüche und Erwartungen an die Zukunft

Der Deutsche Präventionstag 1999 in Hoyerswerda hatte ein weiteres Mal das Kongressthema „Gesamtgesellschaftliche Kriminalprävention“. Nach dem Kongress in Bonn sollten Projekte, Entwicklungen und Perspektiven im Vordergrund stehen.

Zu dieser Zeit forschte ich im Rahmen eines europäischen Projektes zu Fragen der Alltagsbewältigung von Armut in randstädtischen Neubausiedlungen und innerstädtischen Altbaugebieten. Soziale Polarisierung und die räumliche Abbildung von Armut war und ist eine der Herausforderungen, für die Antworten gesucht wurden. Gewalt und Kriminalität ist vor diesem Hintergrund mit Fragen nach sozialen Ursachen und Ungleichheit verbunden.  

Hoyerswerda stand für mich zu dieser Zeit für eine stärker werdende rechtsextreme und gewalttätige Kultur. Die Ausschreitungen von Hoyerswerda von 1991 mit rassistisch motivierten Übergriffen hatten sich tief im Gedächtnis eingebrannt. Gleichzeitig stand die Stadt auch für demokratische Kräfte, die sich dem entgegenstellen wollten und die Frage, wie sie unterstützt werden können. Ebenso stand die Region mit Hoyerswerda-Neustadt und Schwarze Pumpe für den postindustriellen Umbruch und die Herausforderungen diesen zu gestalten.

1999 ist aber auch das Jahr der Einführung des Euros in Deutschland und des Umzugs der Regierung von Bonn nach Berlin. Der Beginn der sogenannten „Berliner Republik“. In vielfacher Hinsicht ein Jahr mit vielen Aufbrüchen und Erwartungen an die Zukunft.       

Kriminalität und Gewalt ist eine Frage des sozialen Zusammenlebens, die alle in der Gesellschaft betrifft und einer „Kultur des Hinsehens“ bedarf. In diesem Verständnis ist Kriminalitäts- und Gewaltprävention eine Querschnittsaufgabe unterschiedlicher Fachressorts und Professionen. Dabei ist die Koordination und Vernetzung von Verwaltung, Politik und Zivilgesellschaft sowie der Präventionsarbeit durch Schule, Politische Bildung, Jugendhilfe, Soziale Arbeit, Integrationsarbeit, Stadtentwicklung, Kultur, Sport, Justiz, Polizei und Opferhilfe eine zentrale Aufgabe.

Aufgrund verschiedener Handlungslogiken und Eigenständigkeit der Beteiligten kommen Bündnissen, Runden Tischen und Räten eine besondere Bedeutung zu, die verschiedenen Akteurinnen und Akteure zu koordinieren. So stand beim 5. Deutschen Präventionstag u.a. die Kommunale Prävention auf der Agenda. Ein Ansatz, der eng mit der Idee der Gesamtgesellschaftlichen Gewaltpräventionen verbunden ist, denn Gewalt- und Kriminalprävention sollte frühzeitig beginnen, Risikofaktoren verringern und die Expertise „vor Ort“ einsammeln. Neben der Frage der Entwicklung von kriminalpräventiven Räten, städtebaulicher Prävention stand in dieser Zeit die Rolle von Videoüberwachung zur Diskussion.  

Ursachen von Gewalt und Kriminalität kommen in diesem gesamtgesellschaftlichen Verständnis von Prävention eine wichtige Bedeutung zu. Durch Prävention sollen mögliche Risikofaktoren für kriminelles und Gewaltverhalten gemindert und Schutzfaktoren gestärkt werden. Bei Programmen, Strategien und Maßnahmen, die die Verhinderung bzw. die Reduktion von Gewalt zum Ziel haben, müssen gesamtgesellschaftliche Entwicklungen in den Blick genommen werden.

Ich will auf drei Meta-Entwicklungen hinweisen, die für mich für die Entwicklung der Präventionsarbeit für das Jahr 1999 rückblickend von großer Bedeutung sind:

Erstens ging das erste Jahr rot-grüner Bundesregierung zu Ende. Eine zentrale Debatte dieser Zeit war die Frage, ob Deutschland ein Einwanderungsland ist und sich die Migrationspolitik auf die Frage ausrichtet, dass die meisten Menschen nicht wieder in ihr Herkunftsland zurückgehen, sondern Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik sind. Am 15. Juli 1999 hatte die rot-grüne Bundesregierung eine Reform des Staatsangehörigkeitsgesetzes beschlossen, die einen Paradigmenwechsel in der Migrationspolitik einleitete. Nun galt auch in Deutschland das „Geburtsortsprinzip“.

Bürgerinnen und Bürger mit Migrationshintergrund hatten nun nach 8 statt 15 Jahren einen Anspruch, die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen. Außerdem wurde unter anderem die doppelte Staatsangehörigkeit möglich. Begleitet wurde die Diskussion allerdings durch eine starke rassistische und populistische Kampagne der Gegnerinnen und Gegner eines neuen Staatsbürgerschaftsrechts. Dennoch gelang einen wichtiger Schritt zur Partizipation von eingewanderten Bürgerinnen und Bürgern und damit weitreichende Veränderungen in vielen gesellschaftlichen Bereichen.

Zweitens feierte die Bundesrepublik 10 Jahre Mauerfall und friedliche Revolution in der ehemaligen DDR. Eine Feier mit Ambivalenzen. Für viele Menschen in den sogenannten „Neuen Bundesländern“ wurde deutlich, dass sich die hohen Erwartungen an die Wiedervereinigung nicht oder nur in geringem Maße erfüllen sollten. Die neue Bundesrepublik hatte ein starkes Problem der Anerkennung der Lebensleistungen der ostdeutschen Bevölkerung. Besonders bitter war die Bilanz der ersten zehn Jahre nach der Friedlichen Revolution für die Bürgerbewegung in der DDR. Sie hatte zentralen Anteil an den Veränderungen und der Öffnung der DDR. Zehn Jahre später mussten die Aktivistinnen und Aktivisten feststellen, dass sie und ihre Ideen von Demokratie an den Rand gedrängt wurden. Zu einer systematischen gesellschaftlichen Diskussion der Forderungen nach weitreichenden politischen Bürgerrechten aus den Erfahrungen der Revolution 1989 von den Bürgerbewegungen und der Opposition am Zentralen Runden Tisch der DDR ist es nie gekommen.

Dennoch ist das Instrument des „Runden Tisches“ kaum mehr aus den Beteiligungsverfahren in Deutschland wegzudenken. Der Runde Tisch ist Teil einer demokratischen Kultur geworden, wenn es darum geht, Lösungen in Kontexten mit vielen unterschiedlichen Interessen sowie Akteurinnen und Akteuren aus unterschiedlichen Organisationskulturen zu finden.

Drittens wissen wir heute, dass das Jahr 1999 der Beginn des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU) war – eine neonazistische terroristische Vereinigung in Deutschland, die zur Ermordung von Menschen mit Migrationshintergrund aus rassistischen und rechtsextremen Motiven gebildet wurde. Vor diesem Hintergrund müssen die Debatten in dieser Zeit um Strategien und Ansätze zur Prävention von Gewalt im Kontext von Rechtsextremismus betrachtet werden.

1999 wandelt sich langsam die Wahrnehmung, dass das Thema Rechtsextremismus kein reines Jugendphänomen war, sondern eine gesamtgesellschaftliche Wirkung. Die 1990er Jahre der Nachwende haben mit „Baseballschlägerjahre“ in der aktuellen Nachbetrachtung einen Begriff aus der Opferperspektive bekommen. Es war eine Zeit, die vor allem für Menschen mit Migrationshintergrund, Geflüchtete, Punks, Obdachlose und andere Gruppen von einer Atmosphäre der Angst geprägt war.

In vielen Städten und Orten haben lokale Politik und Behörden die Taten verharmlost und die alltägliche Bedrohung negiert. Mit dem Begriff der „rechten Hegemonie / Dominanz“ wurde eine Stimmung aus Angst, Anfeindung und Gewalt in vielen Orten in Deutschland beschrieben. Wichtig ist, dass es auch in diesen Jahren mutige Menschen gab, die gegen die rechtsextreme Gewalt protestierten und sich mit den Betroffenen solidarisierten.

Eine zentrale Frage der Gewaltprävention war, wie die demokratische Kultur in der Kommune systematisch und partizipativ gestärkt werden kann. Lokale integrierte Handlungsstrategien betrachten Rechtsextremismus als Angriff auf die demokratische Kultur und nehmen die gesamte Kommune zum Ausgangspunkt ihrer Gegenstrategien. Eine nachhaltige Stärkung von demokratischen Potenzialen in der Kommune kann demnach nicht durch viele punktuelle und voneinander losgelöste Einzelaktivitäten erreicht werden, sondern durch langfristig angelegte, integrierte lokale Handlungskonzepte. Dieser Gedanke sollte sich in den folgenden Jahren und Jahrzehnten in entsprechenden Bundesprogrammen wiederfinden. 

Gesamtgesellschaftliche Prävention ist ein roter Faden der Deutschen Präventionstage in den vergangenen 25 Jahren. Die drei Meta-Entwicklungen aus dem Jahr 1999 machen aus meiner Sicht deutlich, dass die Themen Beteiligung, Anerkennung und demokratische Kultur wichtige Ressourcen für die gesellschaftliche Gewalt- und Kriminalitätsprävention sind. Nimmt man diesen Faden auf, ergeben sich für die aktuellen Debatten drei wichtige Anforderungen:

  1. Wir brauchen einen weiten Gewaltbegriff. Prävention beschränkt sich nicht auf körperbezogene Gewalttaten und Körperverletzungen, sondern umfasst z.B. auch Diskriminierung und Mobbing sowie Phänomene im digitalen Raum (Hassrede, Cyberstalking, Verbreitung extremistischer Weltbilder).
  2. Gewaltpräventive Ansätze sind im Sinne eines Abbaus sozialer Benachteiligung mit individueller und sozialräumlicher Entwicklungsförderung verbunden. In der heterogenen und vorwiegend urbanen Gesellschaft sollte Gewaltprävention und Antidiskriminierung eng zusammengedacht werden. Gewalt verdichtet sich in bestimmten Quartieren und in stark frequentierten öffentlichen Räumen.
  3. Prävention gehört in die Regelstrukturen, in denen bereits jetzt vielfältige Maßnahmen und Angebote der Gewaltprävention umgesetzt werden. Modellprojekte sollten immer mit dem Ziel verbunden sein, die Regeldienste in diesem Sinne zu stärken und darüber hinaus zu verändern.