Die Silvesterkrawalle und ihre Implikationen für die Gewaltprävention
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(siehe auch das Video-Statement von Professor Dr. Dirk Baier bei DPT-TV)
von Prof. Dr. Dirk Baier
In den vergangenen Tagen wurde intensiv über die Hintergründe der Silvesterkrawalle in Berlin und anderen deutschen Grossstädten diskutiert. Die Angriffe auf Polizei und andere Rettungskräfte haben in dieser Form viele überrascht und sind klar zu verurteilen. Die Aufarbeitung und Analyse der Krawalle wird noch einige Zeit dauern. Verschiedene Diagnosen, die kurz danach geäussert wurden, müssen zugleich kritisch hinterfragt werden. So dient es niemanden und schon gar nicht der Präventionsarbeit, die Krawalle zu externalisieren, d.h. Ausländern und Migranten, die sich nicht intergiert haben oder sich nicht integrieren wollen, zuzuschreiben. Die Staatsangehörigkeit oder das Geburtsland sind keine Merkmale, die Gewaltverhalten verursachen. Es sind immer durch Sozialisationserfahrungen bedingte Merkmale, die in bestimmten Situationen Gewalt hervorbringen. Insofern muss die Ursachenanalyse komplexer ausfallen; sie ist dabei eminent wichtig, weil nur auf Basis einer solchen Analyse sonnvolle Gegenmassnahmen ergriffen werden können. Die Prävention von Gewalt muss an den empirisch nachweisbaren Ursachen der Gewalt ansetzen.
Es sind nun bereits verschiedene Akzente bzgl. der Ursachenanalyse gesetzt worden. An dieser Stelle soll die Perspektive gestärkt werden, dass es sich bei den Krawallen in erster Linie um einen Ausdruck von Jugendgewalt handelt – und für die Bekämpfung von Jugendgewalt liegen bereits verschiedene etablierte Präventionsprogramme vor. Was sind aus Jugendgewaltperspektive damit die primären Ursachen hinter den Gewaltvorfällen?
Erstens: Gewalt wird von Jugendlichen ausgeführt, die in ihrer bisherigen Biografie Gewalt als Mittel der Konfliktlösung, der Selbstbehauptung oder Selbstwertsteigerung schätzen gelernt haben. Gewalt ist Resultat einer positiven Einstellung zu Gewalt. Diese Einstellung wird insbesondere, aber natürlich nicht nur, in der Familie vermittelt. Auch wenn die letzten Jahrzehnte nachweislich zu einem Rückgang von familiärer Gewalt und autoritärer Erziehung geführt haben, wachsen noch immer zu viele junge Menschen in entsprechenden familiären Umständen auf. Für die Gewaltprävention heisst das: Es braucht verstärkt familienbezogene Prävention und Intervention, Elternbildung, und dies gerade bei schwer erreichbaren, sozial wenig intergierten Milieus.
Zweitens: Gewalt ist eng verknüpft mit einem antiquierten Bild von Männlichkeit, von Dominanz. In den letzten Jahren hat dieses Bild bei jungen Männern wieder verstärkt Zuspruch erhalten; die Gründe hierfür kennen wir nicht. Wenn junge Menschen im Leben wenig haben, können sie zumindest ihren Körper, ihre Männlichkeit als Ressource aktivieren. Das Ausleben dieser Männlichkeit führt zu Selbstwirksamkeitserleben, zu Machterfahrungen; soziale Ohnmacht wird über körperliche Machtausübung kompensiert. Für die Gewaltprävention heisst das: Gewaltaffine Männlichkeitsbilder gilt es, zu dekonstruieren, auf die immanenten Gefahren und Probleme hinzuweisen. Dies wird nur gelingen, wenn wir den jungen Männern eine glaubwürdige Alternative bieten können für eine rein auf Männlichkeit setzende Identität.
Drittens: Diese Alternative ist Bildung. Höhere Bildung, berufliche Ausbildung, berufliche Integration ist ein starker Schutzfaktor für gewalttätiges Verhalten. Je höher die Bildungist, desto besser ist die Zukunftsperspektive. Unabhängig davon, ob wir über Migrantenjugendliche oder deutsche Jugendliche sprechen: schulischer Misserfolg, Schulabsentismus, vorzeitiger Schulabbruch usw. sollten um jeden Preis vermieden werden. Gerade in jenen Stadtteilen, in denen noch viele junge Menschen von Bildung und Ausbildung ausgeschlossen sind, braucht es daher die meisten Ressourcen für die schulische Förderung; dort braucht es die besten Schulen, die engagiertesten Lehrerinnen und Lehrer, die aktivsten Sozialarbeitenden.
Viertens: Zwar sind aktuell zweifellos Familien und Schulen gefordert, und Präventionsmassnahmen müssen sich auf diese elementaren Sozialisationsbereiche junger Menschen konzentrieren – allein können Familien und SchulenGewaltphänomene aber nicht lösen. Die Gemeinschaft, die Nachbarschaft, der Sozialraum muss aktiviert werden. Auch hierfür gibt es funktionierende Programme der Sozialraumentwicklung. Wichtig scheint dabei mindestens zweierlei: Erstens sind Vereine, Jugendfreizeiteinrichtungenund andere zivilgesellschaftliche Akteure in diesen Räumenzu stärken. Zweitens muss Partizipation der Einwohnerinnen und Einwohner, insbesondere auch der Jugendlichen, gelebt werden. Wo junge Menschen in Entwicklungsprozesse glaubhaft einbezogen werden, werden sie sich positiv engagieren.
Braucht es zudem Massnahmen, um das Feindbild Polizei, das Feindbild Staat bei jungen Menschen abzubauen? Hier ist zunächst fraglich, ob die Täter der jüngsten Krawalle tatsächlich auf Basis solch eines ausgebildeten Feindbilds, aus Hass gegenüber Polizei und Staat gehandelt haben. Es gibt Argumente dafür und Argumente dagegen. Aus Jugendgewaltperspektive dürfte solch ein Feindbild nicht die Hauptmotivation gewesen sein. Die Polizei wird vielmehr als willkommener Gegner identifiziert, als mächtiger Gegner, mit dem man sich messen kann – und dies gerade aus ausreichend grossen Gruppen heraus. Solch situative Umstände, viele Gleichaltrige, die sich als Clique oder Gang definieren (und dadurch eine soziale Identität aufbauen) und die Alkohol oder andere Drogen konsumieren, sind wichtige Katalysatoren der Jugendgewaltentstehung. Hinter den Angriffen auf Polizei und andere Rettungskräfte verbirgt sich damit nicht primär eine ausgeprägte Feindschaft diesen Akteuren gegenüber; vielmehr und verbunden mit den benannten Männlichkeitsorientierungen geht es um ein problematischesBild von der Gesellschaft, dass es zu hinterfragen gilt: das Bild des Rechts des Stärkeren. Dies wiederum lässt durchaus vermuten, dass die Demokratie, die sie verkörpernden Institutionen und die mit ihr verbundenen Prozesse nicht vollständig verstanden und akzeptiert werden. Massnahmen der politischen Bildung, der Demokratiebildung, dürften daher ebenfalls einen gewaltpräventiven Effekt haben und sind daher zu intensivieren.
Dirk Baier, 16.1.2023
www.praeventionstag.de