13.11.2022

Aktuelle Positionspapiere der Deutschen Kinderhilfe

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Anlässlich der am 10.11.2022 in Berlin stattgefundenen Konferenz der Justizminister*innen und -senator*innen, auf der auch das Thema „Kindgerechte Justiz im familienrechtlichen Verfahren“ auf der Agenda stand, hat die „Deutsche Kinderhilfe – Die ständige Kindervertretung“ anliegende Positionspapiere entwickelt und an die Minister*innen und Senator*innen versandt.

Deutsche Kinderhilfe e.V.

Stellungnahme 171/2022 24.10.2022

Positionspapier der Deutschen Kinderhilfe – Die ständige Kindervertretung e.V. Umgang mit dem Umgang nach häuslicher Gewalt
Im Jahr 2021 gab es rund 143.604 Fälle von häuslicher Gewalt in Deutschland, bei denen 108 Frauen und 12 Männer gewaltsam zu Tode kamen. Rund ein Drittel der Taten erfolgte nach einer Trennung. In mindestens jedem zweiten Fall von häuslicher Gewalt gehören Kinder zum Haushalt, die die Gewalt miterlebten. In rund 25 % aller Tötungsdelikte gegen Kinder gibt es Hinweise auf einen Zusammenhang mit einer Trennung der Eltern bzw. sorge- und umgangsrechtlichen Auseinandersetzungen. Bei ca. 50 % der Täter*innen lag zum Tatzeitpunkt eine psychische Erkrankung vor.

Nicht wenige Jugendämter gehen immer noch – fälschlicherweise – davon aus, dass häusliche Gewalt zwischen den Erziehungspersonen keine Kindeswohlgefährdung ist. Oft verlangen Jugendämter und auch Familiengerichte, dass das betroffene Kind/die betroffenen Kinder aus der gewaltbelasteten Beziehung bereits kurz nach der Tat wieder Umgang mit dem Beschuldigten haben. Insbesondere Müttern, die – von Gewalt betroffen – Probleme damit haben, ihr Kind/ihre Kinder dem Beschuldigten zu Umgängen zu überlassen, wird (zu) oft eine so genannte Bindungsintoleranz oder Eltern-Kind-Entfremdung unterstellt und mit einem Entzug der elterlichen Sorge gedroht. Hierbei stellt sich die Frage, ob es nach erlittener Gewalt nicht völlig normal ist, Probleme damit zu haben, das Kind dem Täter – oft auch noch unbegleitet und über das Wochenende – anzuvertrauen? Stellt sich nicht vielmehr auch die Frage, ob häusliche Gewalt gegen den Partner nicht immer auch Bindungsintoleranz des Täters offenbart und eine Eltern-Kind-Entfremdung durch den Täter darstellt?

Handlungsempfehlungen
Nach einer umfangreichen Analyse festgestellter Fehler in Zusammenhang mit Umgangs- rechtsfragen und diversen Gesprächen mit Fachkräften und Betroffenen hat die Deutsche Kinderhilfe – Die ständige Kindervertretung e. V. nachstehende Impulse und Handlungs- empfehlungen entwickelt, die den Rechtsanwenderinnen und Rechtsanwendern ihre künftige Arbeit erleichtern und ihnen mehr Sicherheit bei ihrer Entscheidungsfindung im Sinne des Kindeswohls geben können. Sie sind in diesem Rahmen als Diskussionsgrundlage und Angebot von unserer Seite zu verstehen. In Fällen einer Kindeswohlgefährdung nach häuslicher Gewalt ist immer nur die konkrete Gefährdungslage in Bezug auf das gefährdete Kind zu beurteilen. Wichtig ist: Die Ansprüche an eine Beurteilung einer Gefährdungslage sind grundsätzlich geringer als diejenigen, die an ein Strafurteil zu stellen sind. Je schwerwiegender und dringlicher die drohende Gefahr, desto geringer sind die an sie zu stellenden Ansprüche, um Gefahren abwehrende Sofortmaßnahmen einleiten zu können. Das bedeutet: einem Kind drohende physische Gefahren haben hierbei Priorität. Die Beurteilung einer Gefährdungslage hat auf Tatsachen zu beruhen und nicht auf Mutmaßungen oder bloßen Behauptun- gen.

Kinder dürfen ausnahmslos nie dazu benutzt werden, um sozialpädagogisch mit ihren Erziehungspersonen zu arbeiten. Umgangsexperimente machen Kinder zum Objekt staatlichen Handelns und verstoßen gegen die Menschenwürde. Die abstrakte Gefahr einer möglichen Kindeswohlgefährdung durch einen (zeitweiligen) Bindungsabbruch zu einem schlagenden Elternteil hat gegenüber einer konkreten Gefahr durch Gewalt oder Manipulation des betroffenen Kindes zurückzustehen. Eine Gefahr ist unmittelbar bevorstehend, wenn der Eintritt eines Schadens konkret prognostiziert werden kann oder wenn ein Schaden bereits eingetreten ist. Hiervon ist bei einem Kind, das häusliche Gewalt miterleben musste, auszugehen.

Partnerschaftliche Gewalt indiziert in jedem Fall eine Kindeswohlgefährdung.
Wer schlägt, ist bindungsintolerant und betreibt eine schwerwiegende Eltern-Kind-Entfremdung, denn er untergräbt die Bindung und Autorität des geschlagenen Elternteils gegenüber den zur Familie gehörenden Kindern. Er vermittelt dem Kind falsche Werte und Ver- haltensweisen, die ihm nicht vermittelt werden sollten wie z. B.: Wer schlägt, hat Macht und Kontrolle über den Geschlagenen, der Wille von Schwächeren darf gebrochen werden.

Im Regelfall ist es dem gewaltbetroffenen Elternteil nicht zuzumuten, zu dem gewaltausübenden Elternteil Kontakt aufzunehmen und seine Mitwirkung bei das Kind betreffenden Angelegenheiten einzufordern (Deutscher Verein 2022). Das gelegentlich immer noch angeführte so genannte Parental Alienation Syndrome (PAS) ist wissenschaftlich nicht anerkannt und daher nicht im Klassifizierungssystem psychischer Störungen (DSM-V) aufgenommen worden und kann dementsprechend nicht als Diagnosekriterium herangezogen werden.

Gewalt ist Gewalt und wird dadurch nicht weniger gefährlich und schädlich, dass sie gegen den anderen Elternteil ausgeübt wurde. Wer nachgewiesenermaßen geschlagen hat, sollte so lange keinen Umgang mit seinen Kindern haben, bis er nachhaltig an Maßnahmen wie einer erfolgreichen Teilnahme an Antigewalt-Trainings oder einer Psychotherapie und ggf. einem Alkohol- oder Suchtmittel-Entzug teilgenommen hat. Erst danach kann und darf schrittweise unter Berücksichtigung des Kindeswillens (dies ist unbedingt zu gewährleisten) mit ersten (begleiteten) Umgängen begonnen werden. Probleme (z. B. Personalmangel), geeignete Personen für begleitete Umgänge zu finden, sind kein Grund, unbegleitete Umgänge zuzulassen. Umgangsrechtliche Entscheidungen während gleichzeitig laufender strafrechtlicher Ermitt- lungen sind zwischen Familiengericht, Jugendamt, der Staatsanwaltschaft und der Polizei abzustimmen.

Artikel 3 der UN-Kinderrechtskonvention: Wohl des Kindes
Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist. Das Kindeswohl darf nicht zugunsten des Wohls der Eltern oder einzelner Elternteile gebeugt werden.

Artikel 12 UN-Kinderrechtskonvention: Berücksichtigung des Kindeswillens
Die Vertragsstaaten sichern dem Kind, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, das Recht zu, diese Meinung in allen es berührenden Angelegenheiten frei zu äußern, und berücksichtigen die Meinung des Kindes angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife. Zu diesem Zweck wird dem Kind insbesondere Gelegenheit gegeben, in allen es selbst betreffenden Gerichts- oder Verwaltungsverfahren entweder unmittelbar oder durch einen Vertreter oder eine geeignete Institution im Einklang mit den innerstaatlichen Verfahrensvorschriften gehört zu werden. Der Kindeswille darf nicht zugunsten des Wohls seiner Eltern oder einzelner Elternteile beeinflusst, gebeugt oder „gebrochen“ werden und ist zu berücksichtigen, solange dem Kind hierdurch keine konkreten Gefahren insbesondere für Leben, Gesundheit, Freiheit und der ungehinderten Entwicklung einer eigenen Sexualität drohen.

Artikel 31 Istanbul Konvention: Sorgerecht, Besuchsrecht und Sicherheit
Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass in den Geltungsbereich dieses Übereinkommens fallende gewalttätige Vorfälle bei Entscheidungen über das Besuchs- und Sorgerecht betreffend Kinder berücksichtigt werden. Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die Ausübung des Besuchs- oder Sorgerechts nicht die Rechte und die Sicherheit des Opfers oder der Kinder gefährdet. Bei vorstehender Beurteilung der Sicherheit eines Kindes geht es nicht um Wahrscheinlichkeiten, es geht darum, dass Gefahren ausgeschlossen werden können. Jugendämter nehmen nur auf eigenen Antrag eines Kindes oder bei Gefahr im Verzuge Kinder und Jugendliche zu ihrem Schutz in Obhut. Herausnahmen durch Gerichtsbeschluss oder auf Entscheidung eines Vormundes sind ausnahmslos durch Gerichtsvollzieher vorzunehmen.

Die Polizei leistet Amtshilfe für Jugendämter und Gerichtsvollzieher*innen bei Inobhutnah- men/Herausnahmen von Kindern, wenn Gefahr im Verzug besteht. Ansonsten nur zum Schutz der Person, wenn die Gefahr besteht, dass Mitarbeiter*innen des Jugendam- tes/ein*e Gerichtsvollzieher*in tätlich angegriffen werden. Darüber hinaus gibt es kein Er- fordernis, dass sich die Polizei aktiv in den Prozess mit einbringt. Unmittelbarer Zwang gegen Kinder oder Jugendliche zur bloßen Durchsetzung von Um- gängen ist gemäß § 90 Absatz 2 FamFG verboten. Jeder Einzelfall angeforderter Amtshilfe durch die Polizei ist genau zu prüfen und ggf. zu verweigern.

Fazit
Wo Menschen arbeiten, kann es hin und wieder zu Fehlern kommen, und manchmal schleichen sich über Jahre unbemerkt falsche Routinen und ein falscher Umgang mit Problemen ein. Die Deutsche Kinderhilfe hat im Rahmen ihrer Analyse Korrekturbedarfe erkannt und diese als Handlungsempfehlungen für die Leserinnen und Leser aufbereitet, um sie dabei zu unterstützen, Fehler zu vermeiden. Die Deutsche Kinderhilfe – Die ständige Kinderver- tretung e. V. engagiert sich hierbei aus ihrer Motivation heraus, die Interessen betroffener Kinder bestmöglich zu wahren und zu schützen.

 

Deutsche Kinderhilfe e.V.

Stellungnahme 172/2022 24.10.2022

Positionspapier der Deutschen Kinderhilfe – Die ständige Kindervertretung e.V.: Anzeigen von Elternteilen wegen Hinweisen auf sexuelle Gewalt gegen Kinder – ein großes Dilemma

Einleitung
Die unabhängige Beauftragte für sexuellen Missbrauch an Kindern, die Polizei und andere offizielle Stellen raten Eltern, die den Verdacht haben, dass ihr Kind sexuell missbraucht wurde oder wird, diesen Verdacht anzuzeigen. Elternteile, die einen derartigen Verdacht nicht anzeigen, setzen sich dem Risiko aus, dass sie sich strafrechtlichen Ermittlungen wegen des Verdachts der Verletzung ihrer Fürsorgepflicht gemäß § 171 Strafgesetzbuch aussetzen, etwa wenn die Anzeige durch Dritte erfolgt. Sie laufen weiterhin Gefahr, dass ihnen in diesem Zusammenhang wegen angeblicher Erziehungsunfähigkeit die elterliche Sorge entzogen wird. Müttern, die ihren (ehemaligen) Partner wegen des Verdachts auf sexualisierte Gewalt anzeigen, müssen damit rechnen, dass Beschuldigte in über 90 % der Fälle nicht verurteilt werden. Müttern wird nach einer Anzeige in Zusammenhang mit einer Trennung fast ausnahmslos unterstellt, sie wollten sich am ehemaligen Partner rächen und Vorteile im Sorgerechtsstreit verschaffen. Vätern dagegen werden solche Motive fast nie unterstellt.

Wie bereits ausgeführt ist das Problem der Anzeigeerstatter- und -erstatterinnen, dass es in über 90 % der Fälle zu keiner Verurteilung des Beschuldigten kommt, weil:

  • Kinder unter 4 Jahren als nicht aussagetüchtig gelten

  • DNA-Spuren am Körper betroffener Kinder in aller Regel durch übliche Körperkontakte

  • während der Umgänge erklärt werden können,

  • es für gewöhnlich in diesen Fällen keine Tatzeugen gibt

  • weil Täter nicht immer Beweise in Form von Bild- und Tonaufzeichnungen fertigen

    bzw. diese bei sich aufbewahren

  • weil Täter ohne Beweise in aller Regel die Taten nicht gestehen

  • weil Jugendämter und Familiengerichte bereits vor Abschluss der strafrechtlichen Er-

    mittlungen verlangen, dass die betroffenen Kinder weiterhin Umgang mit dem Beschul- digten haben, was wegen der Einschüchterungs- und Beeinflussungsmöglichkeiten ei- nen Ermittlungserfolg gegen null laufen lässt.

    Nach Erkenntnissen der Deutschen Kinderhilfe aus Gesprächen mit zahlreichen Fachkräf- ten im Bereich Beratung und diversen Fallanalysen folgern Familiengerichte aus den oben genannten Beweisproblemen oft fälschlich, dass die Anzeigen zu Unrecht erfolgt waren. Nicht selten sieht sich die Anzeigenerstatterin/der Anzeigeerstatter deshalb dem Vorwurf ausgesetzt, sie/er sei „bindungsintolerant“ und habe die Beziehung des Kindes zum ande- ren nicht mehr zur Familie gehörenden Elternteil hintertrieben und somit das Kind entfrem- den wollen.

    Dies hat nicht selten zur Folge, dass Anzeigenerstatterinnen und –erstatter deswegen die elterliche Sorge verlieren und dass das betroffene Kind dann beim ehemals beschuldigten Elternteil leben muss.

Das Dilemma
Im Resultat bedeutet das für anzeigende Elternteile in jedem Fall das Risiko, die elterliche Sorge zu verlieren. Entweder weil sie keine Anzeige erstattet haben oder weil ihnen wegen der Anzeige bei Nichtverurteilung des Beschuldigten Bindungsintoleranz unterstellt wird. Dies stellt einen unerträglichen Interessenkonflikt für die oder den Anzeigenden dar und ist ein von Gerichts oder von Amts wegen erzeugtes Dilemma. All das zu Lasten der Kinder.

Das Problem ist, dass Untersuchungen in Deutschland und eine unten genannte Studie aus den USA darauf hindeuten, dass Frauen bei einem Vergleich bis zu viermal so häufig die elterliche Sorge entzogen wird wie Männern. Leider gibt es in Deutschland hierzu bis- lang keine validen Studien.

Die Studie der George Washington University Law School aus den USA aus dem Jahr 2019 geht dezidiert auf die angeführten Fragestellungen ein. Zudem gibt dieses Projekt Hinweise darauf, dass es sich bei allen Unterschiedlichkeiten der Rechtssysteme um ein internatio- nales und ein eher weibliches Problem zu handeln scheint. So fanden die Forschenden (Joan Meier et al.) bei einer Analyse von fast 2.000 Fällen heraus, dass Mütter, die den Vorwurf der Kindesmisshandlung gegen den Vater erhoben, in einem von vier Fällen das Sorgerecht an den mutmaßlichen Täter verloren. Selbst wenn es sich um nachgewiesene Fälle der Kindermisshandlung handelte, bekamen trotzdem in 19 % aller Fälle die Väter das alleinige Sorgerecht. Wenn dagegen Mütter gemischte Formen der Gewalt vorwarfen, also bspw. körperliche und sexualisierte Gewalt, stieg das Risiko für sie, das Sorgerecht zu verlieren, sogar auf 50 %. Besonders signifikant war hier das Geschlechter-Ungleichgewicht.

Erhoben Väter Gewaltvorwürfe gegen die Mutter, verloren sie in 12 % aller Fälle das Sor- gerecht. Erhoben Mütter die Vorwürfe, verloren sie in 28 % der Fälle das Sorgerecht. Bei nachgewiesener Gewalt war der Unterschied noch größer. Während 4 % der Väter das Sorgerecht an gewalttätige Mütter verloren, verloren 13 % der Mütter das Sorgerecht an einen nachgewiesen gewalttätig gewesenen Vater. Noch dramatischer wurde es, wenn die Gegenseite den Vorwurf der „Entfremdung“ einbrachte und das Familiengericht dem folgte. Wurde Müttern vorgeworfen, das Kind vom Vater entfremdet zu haben, verloren sie selbst bei nachgewiesener häuslicher Gewalt in 63 % der Fälle das Sorgerecht an den gewalttätigen Vater. Offenbar handelt es sich nicht nur um ein rein amerikanisches, sondern auch ein deutsches Phänomen. Der Soziologe Dr. Wolfgang Hammer kam in seiner im April 2022 veröffentlichten studienähnlichen Untersuchung „Familienrecht in Deutschland – Eine Bestandsaufnahme“ zu einem in die gleiche Richtung gehenden Ergebnis. Bei seiner Durchsicht der Akten war auffällig, dass in der Mehrzahl der Fälle (412) Vorwürfe von Vätern den Ausgangspunkt bildeten. Die Anschuldigungen der Väter und der Angehörigen ihres Be- zugssystems wurden in 362 Fällen ohne Prüfung als Fakt zu den Akten genommen. Auf dieser Grundlage wurde dann die Kindeswohlgefährdung durch die Mütter begründet und stufenweise auf eine Inobhutnahme oder zumindest auf großzügige Besuchsregelungen zugunsten der Väter hingewirkt. Hinweise der Mütter auf Übergriffe der Väter anlässlich von Besuchskontakten in 126 Fällen wurden ausnahmslos als Falschaussagen – ebenfalls ohne Prüfung – den Müttern zur Last gelegt.

Was brauchen wir?
Nach Auswertung einer Vielzahl von Sachverhalten und Beschlüssen/Entscheidungen so- wie häufigem intensiven Austausch mit Richtern, Fachkräften und Betroffenen hat die Deutsche Kinderhilfe – Die ständige Kindervertretung e. V. die nachstehenden Impulse und Handlungsempfehlungen entwickelt, um den politisch Verantwortlichen in Bund und Län- dern die Möglichkeit zu geben, das zu tun, was getan werden muss, um sich künftig mehr als bislang am Kindeswohl zu orientieren.

Unsere Impulse und Handlungsempfehlungen:
Wir brauchen Jugendämter und Familiengerichte, die den Begriff des Kindeswohls und die damit verbundene Haltung Kindern gegenüber nicht im Sinne ihrer persönlichen Vorstel- lung von Kindeswohl oder Kinderschutz „beugen“.

Wir brauchen Jugendämter und Familiengerichte, die die Istanbul-Konvention und die UN- Kinderrechtskonvention leben.

Familienrechtliche Entscheidungen und sozialpädagogische Arbeit dürfen Gefahrenabwehr und Strafverfolgung nicht überlagern oder unterlaufen.

Sexualisierte Gewalt ist immer eine schwere Kindeswohlgefährdung.

Fragen des Umgangs mit dem Umgang in solchen Fällen sind immer zwischen Familien- gericht, Staatsanwaltschaft, Jugendamt und Polizei abzustimmen.

Elternteilen, die ihr Kind zu schützen haben, darf das Jugendamt oder das Familiengericht nicht länger pauschal Bindungsintoleranz unterstellen, was ihnen dann regelmäßig bei Sorge- und Umgangsrechtsfragen zum Nachteil gereicht.

Der Verdacht auf sexualisierte Gewalt gegen das eigene Kind ist von dem wahrnehmenden Elternteil immer anzuzeigen. Denn ein Elternteil, dass den Verdacht auf sexualisierte Gewalt nicht anzeigt, verstößt gegen seine Fürsorgepflicht und macht sich u. U. deswegen nach § 171 Strafgesetzbuch „Verletzung der Fürsorge oder Erziehungspflicht“ strafbar.

Bindungsintoleranz gegenüber dem verdächtigen anderen Elternteil ist normales schützen- des Verhalten und Pflicht des*der Sorgeberechtigten. Das muss von offizieller Seite künftig auch so bewertet werden. Dieses schützende Verhalten darf somit grundsätzlich nicht mit einem Entzug der elterlichen Sorge sanktioniert werden.

Sexualisierte Gewalt gegen ein Kind ist zugleich eine schwere Eltern-Kind-Entfremdung gegenüber dem anderen Elternteil, da durch die Taten nicht nur das Kind geschädigt wird, sondern der Täter das Kind darüber hinaus zum Verschweigen der Übergriffe nötigt.

Im Regelfall ist es dem gewaltbetroffenen Elternteil nicht zuzumuten, zu dem gewaltausübenden Elternteil Kontakt aufzunehmen und seine Mitwirkung bei das Kind betreffenden Angelegenheiten einzufordern. Diese Forderung des Deutschen Vereins aus dem Jahr 2022, bezogen auf häusliche Gewalt, muss erst recht für sexualisierte Gewalt gegen ein Kind gelten. Hier ist eine Mitwirkung bei das Kind betreffenden Angelegenheiten generell nicht zumutbar.

Artikel 21 der Istanbul Konvention lautet:

  1. 1  „Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass in den Geltungsbereich dieses Übereinkommens fallende gewalttätige Vorfälle bei Entscheidungen über das Besuchs- und Sorgerecht be- treffend Kinder berücksichtigt werden“.

  2. 2  „Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen Maß- nahmen, um sicherzustellen, dass die Ausübung des Besuchs- oder Sorgerechts nicht die Rechte und die Sicherheit des Opfers oder der Kinder gefährdet“.

Nach einer glaubhaften Anzeige wegen sexualisierter Gewalt sollte der Beschuldigte bis zum Abschluss der Ermittlungen erst einmal keinen Umgang mit dem betroffenen Kind und ggf. auch mit nicht betroffenen Geschwisterkindern haben.

Es kann und darf nicht abgewogen werden, ob eine Kindeswohlgefährdung durch einen Beziehungsabbruch zu einem Elternteil schwerer wiegt als sexualisierte Gewalt. Eine Kindeswohlgefährdung durch einen (zeitweiligen) Bindungsabbruch zum Beschuldigten dürfte in aller Regel weniger schwer wiegen als eine konkrete Gefährdung durch sexualisierte Gewalt.

Eventuelle in Betracht gezogene begleitete Umgänge und familienrechtliche Entscheidungen sind ausnahmslos zwischen dem handelnden Jugendamt, dem örtlichen Familiengericht und der die Ermittlungen führenden Staatsanwaltschaft abzustimmen.

Strafverfahren wegen sexualisierter Gewalt gegen Kinder sind dringend zu verkürzen. Strafrechtliche Ermittlungen sind so zu führen, dass spätestens 3 Monate nach Anzeigeerstattung das Verfahren eingestellt oder ein Urteil gefällt wird (diesbezügliche gesetzliche Vorgabe werden in Israel konsequent umgesetzt).

Kinderschutzsachen mit familienrechtlichen Bezügen (die in der Regel vorliegen) sind bei Polizei und Staatsanwaltschaft ausnahmslos als Sofortsachen zu bearbeiten.

Die Einstellung strafrechtlicher Ermittlungen oder auch ein Freispruch haben nichts mit der Gefährdung des betroffenen Kindes durch den ehemaligen Beschuldigten/Angeklagten oder durch sein soziales Umfeld zu tun. Jeder Einzelfall ist danach neu zu bewerten. Diese Neubewertung darf nicht obligatorisch dazu führen, dass dem*der Anzeigeerstatter*in ein Missbrauch des Ermittlungsverfahrens unterstellt wird.

Das Jugendamt hat sich zuvorderst für die Kinder und Jugendlichen und erst nachrangig für deren Eltern einzusetzen.

Kinder dürfen nicht für Experimente missbraucht werden, ob Umgänge mit bestimmten Per- sonen, die im Verdacht stehen, gegen sie sexuell übergriffig werden zu können, „funktio- nieren“ oder nicht. Sie haben keinen Einfluss auf derartige Experimente von Gerichts oder von Amts wegen und werden hierdurch zum bloßen Objekt staatlichen Handelns. Dies verstößt gegen ihre Menschenwürde.

Sowohl im Strafverfahren als auch im familienrechtlichen Verfahren sind alle Möglichkeiten auszuschöpfen, um Befragungen und Untersuchungen so schonend wie möglich für die betroffenen Kinder vorzunehmen. Maßnahmen sind so zu bündeln, dass Wiederholungen zu Lasten der Kinder vermieden werden.

Ein eingesetzter Verfahrensbeistand ersetzt keine umfangreichen persönlichen Befragun- gen von Personen aus dem sozialen Umfeld eines betroffenen Kindes. Dies gilt insbesondere, wenn es keine Beweise für die Tat außer den Anhaltspunkten des anzeigeerstattenden Elternteils gibt.

Das Instrument der richterlichen Videovernehmung sollte in Strafverfahren zukünftig nicht nur optional, sondern obligatorisch zu Anwendung kommen.

Deutschlandweit sollten zu diesen Zwecken flankierend flächendeckende Kinderschutzhäuser (wie z. B. Childhoodhäuser) eingerichtet werden.

Fazit
Es hat in den zurückliegenden Jahren und Monaten zu viele tragische Einzelfälle gegeben, in denen Kinder und Jugendliche aus funktionierenden Bindungen herausgenommen und oft gegen ihren ausdrücklich erklärten Willen bei ehemaligen Beschuldigten oder fremd untergebracht wurden.

Selbst wenn dies nachträglich geheilt werden konnte, dauerte der Verlust der sozialen Bindungen oft Wochen und Monate an. In den wenigsten Fällen bleibt das ohne Folgen für die betroffenen Kinder und Jugendlichen. Viele leiden danach unter Störungen im sozialen Ver- halten, oder beispielsweise an Essstörungen, Drogenmissbrauch oder Aggressionsproblemen, Depressionen bis hin zur Suizidgefährdung.

Bei einigen analysierten Fällen konnte man den Eindruck gewinnen, dass die entscheidenden Richter einen Irrtum nicht revidieren wollten. Dies ist menschlich, sollte aber trotzdem nicht sein.

Schließlich ist noch die Theorie des Parental Alienation Syndrome (PAS) von R. A. Gardener genauer zu betrachten. Sie ist immer noch weltweit verbreitet, obwohl sie wissenschaftlich längst widerlegt wurde. In vielen Ländern ist sie bei Gericht nicht als Beweisführung einer erzieherischen Überforderung zugelassen.

R.A. Gardner wurde des Weiteren durch seine befürwortenden Stellungnahmen zum positiven Wert sexueller Beziehungen zwischen Kindern und Erwachsenen bekannt. 1991 veröffentlichte er hierzu „Sex-Abuse Hysteria: Salem Witch Trials Revisited“ im Selbstverlag. 1992 verfasste er das Buch “True and False Accusations of Child Sex Abuse”. Nach Gardner ist sexueller Missbrauch von Kindern in Familien eine Erfindung der Mütter und deren Kampfmittel, um Vätern den Zugang zu ihren Kindern zu verweigern. Auf dieser Argumentationsbasis wurden und werden weiterhin Kinder zu Kontakten mit ihren missbrauchenden Vätern gezwungen. Die daraus entwickelte PAS-Theorie ist aktuell in Deutschland dennoch Gegenstand zahlreicher Fortbildungen für Fachkräfte der Jugendämter, Familienrichterinnen und -richter sowie Verfahrensbeistände. Trotz der wissenschaftlich und rechtsstaatlich unhaltbaren Grundlage der PAS-Theorie zeigen sich deren Begründungsmuster auch ohne formalen Bezug zu PAS durchgängig in der Argumentation der Jugendämter und Gerichte in den ausgewerteten Fällen.

Dem Grunde nach ist Gardner in seinem Wirken mit dem zuletzt in Berlin aktiv gewesenen Helmut Kentler vergleichbar, dessen so genanntes Kentler-Experiment keiner weitergehenden Erläuterungen bedarf.

Das PAS ist nicht eigenständig im Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders der American Psychiatric Association oder in der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme der WHO als Störung erfasst. Anders lautende Behauptungen, Parental Alienation sei in die ICD-11 aufgenommen worden, müssen als nichtzutreffend angesehen werden. In der aktualisierten Version der ICD-11 wurde der Suchbegriff 'Parental Alienation', der keine Diagnose war, inzwischen entfernt. Der Eintrag in der ICD-11 unter QE52.1, Loss of love relationship in childhood, stellt keine Beschreibung von PA(S) dar, sondern lediglich eine Beeinträchtigung des Kindes aufgrund eines Verlustes einer engen emotionalen Beziehung. Deshalb sind die PAS-Theorie und die auf ihrer Basis getroffenen Bewertungen als Entscheidungsgrundlage in Gerichtsver- fahren inakzeptabel.

Die Deutsche Kinderhilfe – Die ständige Kindervertretung e. V. möchte interessierten Politikerinnen und Politikern auf Bundes- und Landesebene ihre Thesen und Sichtweisen als Anregung und Diskussionsgrundlage zur Verfügung stellen.

Unsere Ausführungen haben nur ein Ziel: betroffene Kinder bestmöglich vor sexualisierter Gewalt zu schützen und dafür zu sorgen, dass sie nicht in den „Mühlen der Justiz“ zermahlen werden.

Deutsche Kinderhilfe – Die ständige Kindervertretung e.V.

Rainer Becker Ehrenvorsitzender

 

Ein Service des deutschen Präventionstages.
www.praeventionstag.de

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