Prävention von Radikalisierung und demokratiefeindlichem Extremismus: Aktuell (204)
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Aktuelles aus dem Deutschen Bundestag:
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Offene Haftbefehle politisch motivierter Straftäter
(hib/STO) Zum Stichtag 31. März 2021 sind laut Bundesregierung insgesamt 7.611 offene Haftbefehle zu 1.446 Personen mit politisch motiviertem Hintergrund im Polizeilichen Informationssystem (Inpol-Z) beziehungsweise im Schengener Informationssystem (SIS II) ausgeschrieben gewesen. Wie aus der Antwort der Bundesregierung (19/30571) auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen (19/30077) dazu hervorgeht, handelt es sich bei dem den Haftbefehlen zugrundeliegenden Delikten nicht zwingend um politisch motivierte Straftaten. Die Zuordnung der jeweiligen Person zu einem Phänomenbereich der politisch motivierten Kriminalität erfolge "durch die datenbesitzende Stelle unter Berücksichtigung der dort vorliegenden Erkenntnisse". Von den 7.611 nicht vollstreckten Haftbefehlen entfielen den Angaben zufolge 6.245 auf den Phänomenbereich "Politisch motivierte Kriminalität - religiöse Ideologie", 602 auf den Bereich der politisch rechts motivierten Kriminalität, 188 auf den Phänomenbereich "Politisch motivierte Kriminalität - ausländische Ideologie" und 95 auf den Bereich der politisch links motivierten Kriminalität. 16 entfielen laut Vorlage auf den Bereich "Spionage/Proliferation/Landesverrat" und 465 auf den Bereich "Politisch motivierte Kriminalität - nicht zuzuordnen". Zugleich verweist die Bundesregierung darauf, dass im Vergleich zum Stichtag 26. März 2020 eine höhere Anzahl offener Haftbefehle politisch motivierter Straftäter zu verzeichnen sei. Die höhere Gesamtzahl der Haftbefehle sei insbesondere auf die höhere Anzahl offener Haftbefehle im Phänomenbereich "Politisch motivierte Kriminalität - religiöse Ideologie" zurückzuführen. Ursächlich hierfür seien hauptsächlich Haftbefehle ausländischer Behörden. Bei 5.530 der 6.245 zum Stichtag 31. März 2021 diesem Phänomenbereich zugeordneten Haftbefehle handele es sich um sogenannte Interpol-Rotecken anderer Staaten "zu Personen, die sich an Kampfhandlungen in Jihad-Gebieten beteiligt haben (sollen)". -
Politisch links motivierte Straftaten
(hib/STO) In Deutschland sind in den ersten drei Monaten dieses Jahres vorläufigen Zahlen zufolge 58 Menschen aufgrund politisch links motivierter Straftaten verletzt worden nach 143 im vierten Quartal 2020. Dies geht aus der Antwort der Bundesregierung (19/30570) auf eine Kleine Anfrage der AfD-Fraktion (19/30060) hervor. Danach wurden im Zeitraum von Anfang Januar bis Ende März dieses Jahres mit Stand vom 27. Mai 1.928 Straftaten verübt, die der politisch links motivierten Kriminalität zugerechnet werden, darunter 217 Gewaltdelikte. Für das vorherige Quartal waren zum Stichtag 31. Januar 2.837 politisch links motivierte Straftaten registriert worden, darunter 547 Gewalttaten. Die Zahl der ermittelten Tatverdächtigen beläuft sich laut Vorlage für das erste Quartal 2021 auf 620 und für das vierte Quartal 2020 auf 1.161. -
Ausschluss von Einbürgerung nach antisemitischen Straftaten
(hib/STO) Der Ausschuss für Inneres und Heimat hat grünes Licht für die Schaffung eines gesetzlichen Rahmens zur Einbürgerung früherer NS-Verfolgter und deren Nachkommen gegeben. Bei Enthaltung der AfD-Fraktion verabschiedete das Gremium am 22.06.2021 den entsprechenden Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes (19/28674) in modifizierter Fassung. Nach dem bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommenen Änderungsantrag der Koalition soll zudem künftig jede Verurteilung zu einer antisemitisch oder rassistisch motivierten Straftat zu einem Ausschluss von der Einbürgerung führen. Der Gesetzentwurf steht in der Nacht zum Freitag zur abschließenden Beratung auf der Tagesordnung des Bundestagsplenums. Wie die Bundesregierung in ihrer Vorlage schreibt, sollen damit "gesetzliche Ansprüche zur staatsangehörigkeitsrechtlichen Wiedergutmachung" geschaffen werden. Das Bundesinnenministerium hatte den Angaben zufolge 2019 Erlassregelungen in Kraft gesetzt, durch die Nachfahren NS-Verfolgter, die staatsangehörigkeitsrechtlich Nachteile erlitten haben, aber nicht unter den Anspruch aus Artikel 116 Absatz 2 des Grundgesetzes fallen, die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten können. "Berücksichtigt wurden auch Kinder deutscher und früherer deutscher Staatsangehöriger, die bei Geburt vor dem 1. Januar 1975 beziehungsweise vor dem 1. Juli 1993 in geschlechterdiskriminierender Weise vom Abstammungserwerb der deutschen Staatsangehörigkeit ausgeschlossen waren, sowie deren Abkömmlinge", heißt es in der Vorlage weiter. Diese Erlassregelungen sollen nun in gesetzliche Anspruchsgrundlagen übergeleitet werden. Dabei erfolge die gesetzliche Verankerung auch, "um den Wiedergutmachungsregelungen das von Betroffenenseite geforderte symbolische Gewicht zu geben". Die vom Ausschuss angenommenen Änderungen sehen unter anderem vor, dass Verurteilungen "wegen einer rechtswidrigen antisemitischen, rassistischen, fremdenfeindlichen oder sonstigen menschenverachtenden Tat" auch unterhalb der Schwelle sogenannter Bagatelldelikte von einer Einbürgerung ausschließen. Dies betrifft Verurteilungen zu Geldstrafen bis zu 90 Tagessätzen oder zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafen bis zu drei Monaten. -
Forschung zu verfassungsfeindlichen Tendenzen in der Polizei
(hib/FLA) Sachverständige insbesondere aus der Wissenschaft haben sich für weitere Forschungen rund um die Thematik verfassungsfeindlicher Tendenzen in der Polizei ausgesprochen. Das zeigte sich bei einer Anhörung des Ausschusses für Inneres und Heimat unter der Leitung von Andrea Lindholz (CSU). Dazu lag ein Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen (19/20063) vor.-
Diesen Antrag begrüßte Rafael Behr von der Akademie der Polizei Hamburg. Das darin geforderte ständige Monitoring der Polizeiarbeit sei sehr zu unterstützen. Er beklagte, dass es keine Klarheit über die Nomenklatur gebe und hob dabei ab auf Begriffe wie Struktur, Institution, Rassismus oder Rechtsextremismus. Das Feld sei übersät von Experten der unterschiedlichsten Art. Hier wäre es dringend angezeigt, eine wissenschaftliche Ebene zu erreichen, die Autorität und Reputation habe. Die Debatte über polizeiliche Verfehlungen sei in der ersten Phase hochmoralisch, in der zweiten Phase aber juristisch. In dieser Phase klängen Vorkommnisse sehr schnell ab. Die juristische Betrachtung habe mit der Grundhaltung der Täter womöglich wenig zu tun. Man müsse debattieren, wie mit solchen Fällen auch anders als strafrechtlich umgegangen werden könne. Er sehe die Tendenz zu einer Symptombekämpfung, aber nicht zu einer grundlegenden Auseinandersetzung mit dem Phänomen.
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Astrid Jacobsen von der Polizeiakademie Niedersachsen sagte, es werde zu sehr über das Problem der persönlichen Einstellungen von Polizeibeamten debattiert. Das werde aus wissenschaftlicher Sicht zwar auch betrachtet. Aber es gehe zugleich um Praxis und Strukturen, die verfassungsfeindliche Tendenzen befördern, ermöglichen oder nicht verhindern. Die Einstellungen müssten noch nichts über die praktische Arbeit aussagen. Der Antrag der Grünen sei zu unterstützen, weil da die Praxis ganz deutlich genannt werde. Jacobsen lenkte zudem den Blick auf Beamte, die nicht froh seien über rechtsextremistische Vorkommnisse in ihren Reihen, die aber schwiegen. Über diesen Mechanismus sei bisher zu wenig bekannt. Alle sprächen nur über den negativen Korpsgeist, den es sicher auch gebe.
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Christoph Kopke von der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin machte deutlich, dass die rechtsextremistischen Vorfälle, über die zunehmend berichtet werde, natürlich das Ansehen der Polizei beschädigten. Sie wirkten sich negativ auf die Polizeikultur und die Effizienz der Polizeiarbeit aus. Es sei also im ureigenen Interesse der Polizeibehörden selbst, dagegen vorzugehen. Das Narrativ von Leugnung bis Reduzierung auf Einzelfälle nach verfassungsfeindlichen Vorkommnissen funktioniere nicht mehr. Die Betrachtung der persönlichen Einstellungen könne nur eine Seite sein, auch die strukturellen Bedingungen müssten erkundet werden. Mit Maßnahmen wie politischer Bildung würden nur die erreicht, die dafür offen seien.
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Daniel Kretzschmar, der Berliner Landesvorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalbeamter, unterstrich, wie wesentlich es für die Polizeiarbeit sei, das Vertrauen der Bevölkerung zu haben. Es müsse nicht nur die Polizei in den Blick genommen werden, sondern alle Sicherheitsbehörden. Er sprach sich dafür aus, wissenschaftliche Studien mit zielgenauen Handlungsempfehlungen für einzelne Organisationseinheiten zu entwickeln - länderspezifisch und auch behördenspezifisch. Womöglich sei ein Herunterbrechen auf einzelne Einheiten sinnvoll. Ein Spezialeinsatzkommando sei nun mal nicht eins zu eins mit der Kriminalpolizei zu vergleichen. Er plädierte für weitere Studien und Forschungen.
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Jürgen Peter, Vizepräsident des Bundeskriminalamtes, nannte die Bekämpfung von verfassungsfeindlichem Gedankengut eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Ihr stellten sich die Sicherheitsbehörden des Landes und des Bundes in besonderer Verantwortung. Er machte klar, dass seine Behörde Fehlverhalten konsequent nachgehe. Systematisches Fehlverhalten sei nicht zu erkennen. Er verwies auf die Einsetzung eines Wertebeauftragten, der Prozesstreiber bei dieser Thematik sei. Eine Hürde sei das Disziplinarrecht. In Baden-Württemberg sei es bei besonders schweren Fällen möglich, die Beendigung des Beamtenverhältnisses durch einen Verwaltungsakt vorzunehmen. Er regte an, dies auf Bundesebene zu übernehmen.
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Sinan Selen, Vizepräsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, meinte, das Einstehen für Demokratie und Rechtsstaat sei für die ganz überwiegende Mehrheit der Bediensteten in den Sicherheitsbehörden fest verwoben mit dem Selbstverständnis und Berufsethos. Falls es zu Verstößen komme, machten die Behörden ihre interne Intervention öffentlich. Die Meldungen über rechtsextremistische Fälle an den Verfassungsschutz seien Ausfluss der Kontrolle und Sensorik. Konsequente Maßnahmen gegen verfassungsfeindliche Tendenzen seien kein Sprint, sondern ein Dauerlauf.
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Strukturen für den Kampf gegen islamistischen Extremismus
(hib/HAU) Für den Kampf gegen islamistischen Extremismus braucht es aus Sicht von Sachverständigen nicht neue Strukturen, sondern eine Verstetigung und Unterstützung der vorhandenen. Das wurde während einer öffentlichen Anhörung des Innenausschusses am 21.06.2021 zu Anträgen der FDP-Fraktion (19/24369) und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen (19/24383) deutlich.-
Claudia Dantschke vom Verein Grüner Vogel, Teil des Beratungsnetzwerkes der Beratungsstelle Radikalisierung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF), bewertete das 2018 ins Leben gerufene Nationale Präventionsprogramm gegen islamistischen Extremismus positiv. Dadurch würden die Initiativen im Kampf gegen islamistischen Extremismus gut koordiniert und vernetzt. "Es gibt eine sehr gute Abstimmung zwischen dem Bund und den Ländern aber auch zwischen zivilgesellschaftlichen und staatlichen Akteuren", sagte sie. Problematisch sei aber die jährliche Finanzierung der zivilgesellschaftlichen Projekte. Um wichtiges, eingearbeitetes Personal halten zu können, bräuchte es eine längerfristig gesicherte Finanzierung, sagte Dantschke.
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Auch Thomas Mücke von der Organisation Violence Prevention Network verwies auf die in den letzten Jahren geschaffenen Strukturen der Deradikalisierungsarbeit, die es nun zu sichern gelte. "Wir haben ein funktionierendes System", sagte er. Im Bereich der Professionalisierung sei sehr viel passiert. Mit Blick auf die aktuelle Situation kam Mücke zu der Einschätzung, dass die öffentliche Aufmerksamkeit für die Extremismusgefahr derzeit als Folge der Corona-Pandemie reduziert sei. Es gebe derzeit auch weniger Hinweise aus dem sozialen Umfeld radikalisierter Personen. Die extremistische Szene, so Mücke, sei aber auch in der Pandemie sehr aktiv gewesen und habe versucht, ihr Rekrutierungspotenzial aufrechtzuerhalten - insbesondere über das Internet.
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Aus Sicht von Jochen Müller vom Verein ufuq bringt die universelle Prävention, wenn sie sich an eine spezifische Zielgruppe richtet, die Gefahr der Stigmatisierung mit sich, weil sie die Gruppe unter einen Generalverdacht stelle. "Das wäre aber Wasser auf die Mühlen der Extremisten, die genau an diese Alltagserfahrung junger Muslime in Deutschland ansetzen können", warnte er. Dies geschehe auch durch eine Ausweitung des Problems auf Fragen des Asylrechts oder der Organisierten Kriminalität. Müller warnte zugleich vor Alarmismus und machte deutlich, das durchaus vorhandene Konflikte in Schulen, etwa zu Geschlechterrollen, dem Händeschütteln zur Begrüßung oder Verabschiedung, dem Nahost-Konflikt oder dem Ramadan, mit islamistischer Ideologisierung in aller Regel nichts zu tun hätten.
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Jamuna Oehlmann von der Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus begrüßte die Anträge grundsätzlich. Sie teile viele Positionen, die sich im Antrag der Grünen fänden, wie etwa die Forderung nach einer langfristigen Förderung oder einer Institutionalisierung des Austausches mit dem Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum. Bei der Prävention, so betonte sie, gehe es um weit mehr als um Überwachung. Es gehe um Demokratieförderung. In den Anträgen werde aber die universelle Prävention sehr kurz gehalten, befand Oehlmann. Zu begrüßen sei indes eine bundeseinheitliche Präventionsstrategie, "die aber nicht ohne die Beteiligung zivilgesellschaftlicher Akteure umgesetzt werden kann".
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Mit Blick auf die islamistische Bedrohung der freiheitlichen Ordnung enthalten die beiden Anträge aus Sicht des Politikwissenschaftlers Michael Henkel eine Reihe angemessener Forderungen und Diagnosen. Zugleich blieben sie aber hinsichtlich einer Ausschöpfung denkbarer Instrumente hinter den Möglichkeiten zurück. So werde beispielsweise die Problematik der Milieus und des sozialen Umfeldes in den Vorlagen erkannt, die eine Radikalisierung begünstigen und einen Nährboden für Islamismus darstellen können. Dass die Politik auf den Gebrauch der deutschen Sprache in Moscheen hinwirkt, werde gleichwohl nicht verlangt. Ebenso sei die Idee eines wirksamen nationalstaatlichen Grenzschutzes, durch den eine Einreise von Islamisten oder islamistischen Gefährdern unterbunden werden könnte, beiden Anträgen fremd.
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Sowohl der Vizepräsident des Bundeskriminalamtes (BKA), Jürgen Peter, als auch Sinan Selen, Vizepräsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, machten deutlich, dass nach wie vor mit dschihadistisch motivierten Gewalttaten gerechnet werden müsse und es keine Entspannung der Bedrohungslage gebe. In den vergangenen fünf Jahren habe es in Deutschland neun Terroranschläge gegeben mit 14 Todesopfern und rund 100 Verletzten, sagte BKA-Vizepräsident Peter. Zwölf Anschläge seien durch die Sicherheitsbehörden verhindert worden oder seien gescheitert. Im Kontext des islamistischen Terrorismus würden aktuell 1.215 Ermittlungsverfahren geführt - im Jahr 2015 seien es 642 gewesen. Die Anzahl der Gefährder liege bei 570 (2015: 446). Peter hält die deutschen Sicherheitsbehörden im Bereich der Terrorismusabwehr sowie im Falle eines Anschlages für "grundsätzlich adäquat aufgestellt".
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Der Vizepräsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz ergänzte die Zahl von 28.700 Islamisten, die im Jahr 2020 gezählt worden seien. "Das zeigt, dass sich die Interaktion, die Vernetzung von Islamisten nicht abgeschwächt hat", sagte Selen. Auch während der Pandemie bleibe die Szene im virtuellen Raum vernetzt und agiere weiterhin. Die Aktivitäten reichten von der Verfestigung extremistischer Ideen über Spendenaufrufe "bis hin zur Aufforderung, Aktionen gegen Feinde des Islam durchzuführen". Personen, die aktiv werden wollen, erhielten einen brandgefährlichen Support, sagte er. Ein einzeln agierender Täter sei also nicht wirklich allein. Die Unterstützung komme auch von der Terrororganisation "Islamischer Staat" (IS), die sich seiner Einschätzung nach derzeit reorganisiere, sagte der Vizepräsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz.
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Bericht des Amri-Untersuchungsausschusses vorgelegt
(hib/STO) Als Beschlussempfehlung des Untersuchungsausschusses zum Attentat auf dem Berliner Breitscheidplatz vom 19. Dezember 2016 liegt dessen Abschlussbericht vor (19 /30800). Er enthält auf knapp 1.900 Seiten neben einer Darstellung des Verlaufs des Untersuchungsverfahrens und Feststellungen zum Sachverhalt unter anderem die Bewertungen des Untersuchungsausschusses, ferner das gemeinsame Sondervotum der Fraktionen FDP, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen sowie das Sondervotum der AfD-Fraktion. In der Beschlussempfehlung, die am 24.06.2021 auf der Tagesordnung des Bundestagsplenums steht, plädiert der Ausschuss dafür, den Bericht zur Kenntnis zu nehmen. Das Gremium hatte seit März 2018 Akten der Sicherheits- und Ermittlungsbehörden des Bundes und aller 16 Länder ausgewertet und sowie rund 180 Zeugen und Sachverständige gehört. Im Fazit des von der Koalitionsmehrheit von CDU/CSU und SPD vorgelegten Bewertungsteils wird betont, dass der Bundestag es den Opfern und Hinterbliebenen sowie der Öffentlichkeit schuldig gewesen sei, die Umstände rückhaltlos aufzuklären, die dazu führten, dass der Attentäter Anis Amri "nicht aufgehalten und dieser schreckliche Anschlag nicht verhindert werden konnte". Der Ausschuss habe die Überzeugung gewonnen, dass dafür "sowohl individuelle Fehleinschätzungen und Versäumnisse wie auch strukturelle Probleme in den zuständigen Behörden verantwortlich waren: die mit den Herausforderungen nicht Schritt haltenden Ressourcen der für islamistische Gefährder zuständigen Einheiten der Sicherheitsbehörden, die völlige Überlastung aller mit Geflüchteten befassten Stellen im Sommer und Herbst 2015, die Zersplitterung staatsanwaltschaftlicher Zuständigkeiten auch bei als Gefährder eingestuften Tatverdächtigen sowie Mängel beim Informationsaustausch und der Koordination des Vorgehens zwischen Sicherheitsbehörden des Bundes und der Länder" im Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ). Keine der individuellen Fehleinschätzungen und Versäumnisse habe für sich genommen besonders schwer gewogen; alle hätten mit den genannten strukturellen Problemen in engem Zusammenhang gestanden, heißt es in der Vorlage weiter. Im Zusammenwirken hätten sie jedoch dazu geführt, "dass niemand Amri in den Arm fiel und der Anschlag nicht verhindert wurde". Inzwischen habe es in allen Bereichen "erhebliche Verbesserungen gegeben, um die genannten strukturellen Probleme zu beheben". Auch wenn für die Sicherheitsbehörden heute die wachsende terroristische Bedrohung durch Rechtsextremisten vielerorts im Vordergrund stehe, bedürfe die Bedrohung durch islamistische Extremisten weiterhin höchster Aufmerksamkeit. Mit den erfolgten Reformen sei die föderale Sicherheitsarchitektur heute jedoch viel robuster aufgestellt, um diesen Herausforderungen zu trotzen. In ihrem gemeinsamen Sondervotum konstatieren die FDP-, die Linken- und die Grünen-Fraktion, der Terroranschlag sei entgegen offizieller Darstellungen "keine unvorhersehbare und kontextlose Tat eines Einzelnen" gewesen. Amris Rolle bei dem Anschlag und seine Einbindung in radikal-islamistische Kreise von Nordrhein-Westfalen über Hildesheim bis nach Berlin müsse hinterfragt und neu bewertet werden. Eine "umfassende Netzwerkanalyse mit der konsequenten Aufarbeitung vernetzter, islamistischer Strukturen in Deutschland" sei indes bis heute nicht vorgenommen worden. Auch die Flucht Amris nach dem Anschlag sei allenfalls halbherzig aufgearbeitet worden. Durch die "Vernachlässigung wichtigster Ermittlungsstränge" sei die Gefahr eines weiteren Anschlags durch Mitglieder der islamistischen Strukturen um Amri bis zum heutigen Tag gegeben. Mit ihrem Sondervotum wollen die drei Fraktionen laut Vorlage auch dazu beitragen, "die dadurch entstandenen Sicherheitslücken klar und konkret zu benennen". Zugleich legen die drei Fraktionen in dem Sondervotum jeweils eigene "Schlussfolgerungen" vor. Auch die AfD-Fraktion kommt in ihrem Sondervotum zu dem Schluss, dass Amri kein Einzeltäter gewesen sei. Er sei in ein salafistisches Netzwerk in Deutschland eingebunden gewesen und habe intensive Kontakte zu Terrorzellen des IS gehabt. Zugleich sieht die Fraktion "immer noch jede Menge Unstimmigkeiten und Widersprüche, die nicht der offiziellen Version entsprechen". Die Arbeit des Untersuchungsausschusses sei aber trotzdem sinnvoll gewesen, habe sie doch ein "gigantisches Staatsversagen sowie massive politische Fehlentscheidungen des Jahres 2015" sichtbar gemacht. "Die rechtswidrige Politik der offenen Grenzen hat Menschenleben gefordert", schreibt die Fraktion in ihrem Sondervotum weiter.
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