26.09.2023

Die Pandemie auf lange Sicht: wie wirkt(e) sie sich auf Hochschulen aus?

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Wie hat sich die Corona-Pandemie auf Studien- und Karriereverläufe vulnerabler Gruppen im Hochschulsystem ausgewirkt? Ein qualitatives Forschungsprojekt unter der Leitung von Dr. Hanna Haag und unter Mitarbeit von Dr. Elke Schüller am Gender- und Frauenforschungszentrum der Hessischen Hochschulen (gFFZ) ging dieser Frage nach.

In den Blick genommen wurden sowohl Studierende als auch Lehrende. Als vulnerabel werden dabei entsprechend sozialer Ungleichheitslagen folgende Gruppen gefasst: a) Studierende mit Care-Aufgaben, b) Studierende ohne dauerhaften Aufenthaltsstatus in Deutschland, c) Studierende aus nicht-akademischen Haushalten (First Generation Students), d) Studierende mit Beeinträchtigung, e) Forschende/Lehrende mit befristeten Beschäftigungsverhältnissen sowie f) Forschende/Lehrende mit Care-Aufgaben. Das von der Max-Traeger-Stiftung geförderte Projekt „Long COVID im Hochschulbereich? Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf vulnerable Gruppen in der Hochschule“ zeigte deutlich, dass das Erleben der Pandemie und folglich auch des Re-Entry (Rückkehr in den Präsenzbetrieb) erheblich von der Lebenssituation, Dispositionen und den Umständen der Betroffenen abhängig ist. Was die einen positiv empfanden, war für andere negativ behaftet. Das an der Frankfurt University of Applied Sciences (Frankfurt UAS) ansässige Zentrum nutzte als Grundlage für die Studie auch Daten aus den vorherigen Projektteilen (Haag/ Kubiak 2022) und Forschungsergebnisse anderer Studien.

Das Forschungsprojekt

„Long-COVID meint in diesem Fall keine Langzeitfolgen aufgrund einer Erkrankung mit COVID-19, sondern steht symbolisch für längerfristige Auswirkungen der Pandemie im Hochschulbereich“, erklärt Projektleiterin Dr. Hanna Haag, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit der Frankfurt UAS, ihren Ansatz. Zur Datengewinnung wurden Gruppendiskussionen mit Vertreter*innen der genannten Gruppen sowie mit Akteurinnen und Akteuren aus der Beratungstätigkeit und Beauftragten an Hochschulen geführt und mit Hilfe der qualitativen Inhaltsanalyse und nach dem Kodierverfahren der Grounded Theory ausgewertet. Vertreten waren Befragte von Universitäten und Hochschulen für Angewandte Wissenschaften in verschiedenen Bundesländern. „Auch wenn wir nur einige Menschen aus den jeweiligen Statusgruppen befragen konnten, lassen sich doch gut Rückschlüsse ziehen und Gemeinsamkeiten und Unterschiede feststellen“, so Haag. Berücksichtigung fanden neben der Corona-Krise als zentralem Fokus auch weitere Krisenphänomene der Gegenwartsgesellschaft (u.a. Klima-, Ukrainekrise und Inflation). Folgende Forschungsfragen lagen dem Projekt zugrunde: Wie haben Angehörige vulnerabler Gruppen die Pandemie erlebt? Wie hat sich die Pandemie konkret auf Studium/Beruf und Privatleben ausgewirkt? Mit welchen Herausforderungen und Problemen waren sie konfrontiert? Welche Chancen haben sich für sie daraus ergeben? Wie erleben Angehörige vulnerabler Gruppen andere Krisen? Wie blicken Expertinnen und Experten auf die Situation an deutschen Hochschulen? Das Projekt wurde von Januar bis Juni 2023 durchgeführt.

Ambivalentes Empfinden zu Auswirkungen der Pandemie

„Es wurde deutlich, dass das Erleben der Pandemie und folglich auch des ‚Re-Entry‘ an der Hochschule erheblich von der Lebenssituation und den Umständen der Betroffenen abhängig ist. Während die einen aus Vereinbarkeitsgründen etwa in der Digitalisierung eine Möglichkeit der Partizipation und Inklusion sehen, erleben andere digitale Lehre und Arbeit als Vereinsamung oder weitere Hürde für ihren Bildungs- und Karriereweg“, so Haag. Es zeige sich, dass Studierende, Lehrende und Wissenschaftler*innen sehr heterogene Gruppen sind, deren individuelle Bedürfnisse in den Blick genommen werden müssen. „Die in der Öffentlichkeit immer wieder zitierte Aussage, Studierende wünschten sich die Präsenzlehre zurück, kann so allgemein nicht gefasst werden, da die Aussage nicht für alle gleichermaßen gilt“, betont Haag.

Hochschulen und Wissenschaft haben sich durch die Pandemie verändert

Die Krisensituation hat die Karrierewege von Müttern – aber auch von Vätern – in der Wissenschaft bzw. das Studium von Personen mit Familie/Care-Aufgaben zum Teil erschwert, diese teilweise aber auch erleichtert – je nach Perspektive, die eingenommen wird. Auch für Studierende aus nichtakademischen Haushalten, mit Beeinträchtigung oder ohne dauerhaften Aufenthalt in Deutschland hat die Pandemie ambivalente Auswirkungen gehabt. „Die Frage, ob wir im Hochschulbereich von Langzeitfolgen sprechen können, lässt sich in bestimmter Hinsicht bejahen. Auch wenn diese Folgen nicht durchweg belastend und negativ empfunden werden, sind sie spürbar. Hochschulen und Wissenschaft haben sich durch die Pandemie verändert und dies gilt es auch künftig stärker in den Blick zu nehmen, um aus der Corona-Krise zu lernen, wie man mit weiteren Krisen, die wir gegenwärtig erleben, umgehen kann“, erläutert Haag.

Handlungsempfehlungen

Aus den geführten Interviews lassen sich folgende Handlungsempfehlungen ableiten, die zu einer nachhaltigen Verbesserung der Studien- und Arbeitsbedingungen beitragen könnten:

Inklusionspotenzial digitaler Formate nutzen

In allen Interviews wird deutlich, dass der durch die Pandemie erzwungene Digitalisierungsschub, der in seiner zeitweisen Ausschließlichkeit zweifelsohne viele Nachteile für einzelne Gruppen mit sich brachte, auch neue Chancen aufgezeigt hat. Dazu zählt aus Sicht der Befragten vor allem auch ein Inklusionspotenzial, das über Aspekte der Barrierefreiheit hinausgeht und sich auf Themen wie Mobilität und Vereinbarkeit von Care und Studium/Beruf bezieht. Digitalität ermöglicht für unterschiedliche Gruppen eine niedrigschwellige Teilhabe, wenn es beispielsweise um Reduktion von Wegzeiten oder Überbrückung von Betreuungszeiten geht. „Auch wenn die Besonderheiten und Vorteile der Präsenz nicht in Abrede gestellt werden sollen, darf die Rückkehr zur Präsenzlehre und -hochschule nicht dazu führen, dass digitale Kompetenzen nun wieder verloren gehen. Vielmehr bedarf es eines umsichtigen Einsatzes dieser Kompetenzen zur Verbesserung der Arbeits- und Studienbedingungen“, so Haag. Dafür sei vor allem auch mehr Flexibilität in der Gestaltung von Lehr- und Arbeitszusammenhängen erforderlich sowie klare Vorgaben und Regelungen, unter welchen Umständen der Einsatz digitaler Medien möglich ist. Denkbar wäre laut Haag auch eine Regelung digitaler Credit Points für Studierende, sodass digitale Lehre einen festen Bestandteil im Studienplan einnimmt.

Diversität, soziale Gerechtigkeit und Umverteilung von Privilegien

„Unsere Studienergebnisse zeigen zum Teil sehr deutlich, dass sowohl bezogen auf das Studium als auch hinsichtlich wissenschaftlicher Karrieren Leistungsfähigkeit ein wichtiges Thema ist. Diejenigen, die aus unterschiedlichen Gründen nicht so leistungsfähig sind – sei es aufgrund ihres sozialen Status, aufgrund von Care-Verpflichtungen, bedingt durch prekäre Arbeitsverhältnisse oder durch gesundheitliche Beeinträchtigungen – ziehen oft den Kürzeren, müssen zurückstecken und erleben Ungerechtigkeiten im Sinne von Zugangs- und Verbleibchancen in Studium und Wissenschaft. Neoliberale Hochschulpolitiken und meritokratische Leistungsbewertungssysteme sorgen für einen erhöhten Konkurrenz- und Leistungsdruck, dem jedoch nicht alle mit den gleichen Voraussetzungen begegnen können. Gerade diese Unterschiede gilt es im Sinne diversitätsorientierter Hochschulpolitik noch stärker zu berücksichtigen, um Chancengerechtigkeit zu ermöglichen und Privilegien in Hochschulen umzuverteilen“, ordnet Haag ein.

Sichere Arbeitsverhältnisse in der Wissenschaft

Die Befragten thematisierten auch die Beschäftigungsbedingungen an deutschen Hochschulen, die insbesondere junge Wissenschaftler*innen vor Herausforderungen stellen. Befristete Arbeitsverhältnisse erfordern Flexibilität und das Bewerben auf immer wieder neue Stellen ggf. auch an verschiedenen Hochschulen und somit verschiedenen Orten. „Dies mit Reproduktionsarbeit und Familie zu vereinen, ist oft ein schwieriges Unterfangen und führt teils zu einer sozialen Auslese in der Wissenschaft. Betroffen sind davon vor allem vulnerable Gruppen wie Wissenschaftler*innen mit Care-Aufgaben oder mit Beeinträchtigung, für die sich Wissenschaft so nur schwer mit ihrem Leben vereinbaren lässt“, erklärt Haag. Deshalb sei es wichtig, strukturelle Veränderungen vorzunehmen, damit Wissenschaftler*innen unterhalb der Professur mehr Sicherheit und damit Verbleibchancen in der Wissenschaft haben.

Empathie und Menschlichkeit statt Konkurrenz

In der Pandemie haben sich viele einsam gefühlt, haben den Austausch untereinander entbehrt und dabei gemerkt, wie wichtig es für die eigene Arbeit ist – Studium gleichermaßen wie wissenschaftliche Tätigkeit – miteinander in Kontakt zu sein. „Hochschulen sollten diese Bedürfnisse nach Kontakten fördern und kein Ort von Einzelkämpfern sein, sondern eine ‚akademische Familie‘, deren Angehörige aufeinander Rücksicht nehmen und für einander Sorge leisten“, wünscht sich Haag.

Quelle: bildungsklick

Ein Service des deutschen Präventionstages.
www.praeventionstag.de

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