Kampf gegen Hunger braucht Investitionen und Innovationen
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(hib/HAU) „Das System humanitärer Hilfe weltweit steht vor dem Zusammenbruch.“ Das machte der Leiter des Berliner Büros des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen (WPF), Martin Frick, während einer öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe am Montag deutlich. Frick klagte über eine Unterfinanzierung von 60 Prozent. „So miserabel war unsere Finanzierung noch nie“, sagte er. Eine Kumulation von Krisen konstatierte auch Marlehn Thieme, Präsidentin der Deutschen Welthungerhilfe. Sie hält das Nachhaltigkeitsziel „Kein Hunger“ bis zum Jahr 2030 dennoch für erreichbar. Entscheidend dafür sei der politische Wille und die finanzielle Selbstverpflichtung insbesondere der reichen Länder, sagte sie.
Frick verwies vor dem Ausschuss auf die Vielzahl aktueller Krisen. Es gebe den Konflikt im Sudan, Erdbeben in Marokko, Sturzfluten in Libyen, Staatsstreiche in der Sahel-Region, hunderttausende Flüchtlinge aus Armenien, Erdbeben in Afghanistan und nun auch noch die „eskalierende Katastrophe“ im Nahen Osten. Aktuell sei man im System der humanitären Hilfe an einen Punkt gekommen, „wo wir in manchen Gegenden der Welt nicht mal die elementarsten Maßnahmen treffen können“, sagte der Leiter des Berliner WPF-Büros. In Afghanistan etwa hätten die Vereinten Nationen im letzten Jahr noch 23 Millionen Menschen versorgen und damit eine Hungersnot abwenden können. Jetzt reichten die Mittel nur noch für drei Millionen Menschen.
Bernhard Kowatsch, Leiter des Innovation Accelerator beim Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen, sprach von massiven Herausforderungen durch den weltweit wachsenden Hunger. Um diesen zu beenden seien Innovationen und Technologie unverzichtbar. Schon jetzt würden in der Praxis modernste Technologien wie Blockchain und künstliche Intelligenz genutzt und kontinuierlich daran gearbeitet, „noch mehr bahnbrechende Ideen für unsere Arbeit zu finden und zu fördern“.
Kowatsch nannte das Datenanalysetool „Optimus“, eine auf Big Data und Künstliche Intelligenz basierende Anwendung, die kosteneffiziente Lösungen für die ideale Zusammenstellung von Nahrungsmittelrationen und dem Supply Chain Netzwerk des WFP bereitstelle. Dabei berücksichtige Optimus Daten wie Bevölkerungsgröße, Transportrouten und Nährwerte. Laut Kowatsch habe Optimus 2022 über sieben Millionen Menschen in 20 Ländern erreicht und in den letzten Jahren schon Kosteneinsparungen von rund 50 Millionen US-Dollar erzielt, die wiederum für humanitäre Hilfe genutzt werden konnten.
In den letzten 50 Jahren seien deutliche Fortschritte in der Hungerbekämpfung gemacht worden, sagte Matin Qaim, Direktor des Zentrums für Entwicklungsforschung (ZEF) an der Universität Bonn. Seit 2015 stagniere aber der Fortschritt in der Hungerbekämpfung. Zuletzt sei der Anteil hungernder Menschen an der Weltbevölkerung sogar wieder etwas angestiegen. Derzeit, so Quaim, hungerten fast 800 Millionen Menschen.
Dies habe auch mit dem rückläufigen Produktivitätswachstum in der Landwirtschaft zu tun. Die Ertragssteigerungen in der weltweiten Nahrungsproduktion seien heute niedriger als sie es in den vergangenen Jahrzehnten gewesen seien und hinkten der Nachfrageentwicklung hinterher. Auch das trage zu Preissteigerungen bei. Die Landwirtschaft müsse also ertragreicher und gleichzeitig umweltfreundlicher und klimaangepasster werden, betonte Qaim. Das erfordere unter anderem auch die Weiterentwicklung und Nutzung neuer Technologien, wie genomische Züchtung und digitale Innovationen.
„Die Hungerkrise ist auch eine Wasserkrise“, sagte Johannes Rück, Koordinator beim deutschen WASH-Netzwerk, einem Zusammenschluss von 29 NGO zum Thema Wasser, Sanitärversorgung und Hygiene. Wasser sei nicht nur ein Lebensmittel, sondern eine Grundvoraussetzung für jede Nahrungsmittelproduktion, sagte Rück. Blicke man auf die Bevölkerungsgruppen, die überhaupt keinen Zugang zu Wasser, Sanitärversorgung oder Hygiene (WASH) haben, dann seien es oftmals die gleichen marginalisieren Gruppen, die auch unter Hunger, Unterernährung und armutsassoziierten Krankheiten leiden. „Wasser und WASH sind überlebenswichtig in Krisen. Sie sind Grundvoraussetzungen für Ernährungssicherheit und zentrales Handlungsfeld für Klimaresilienz“, sagte er. Daher müsse der Sektor auch gestärkt werden.
Sarah Schneider, Referentin für Landwirtschaft und Welternährung des Bischöflichen Hilfswerks Misereor, forderte, die strukturellen Ursachen für den Hunger in der Welt in den Blick zu nehmen. „Hunger ist politisch“, sagte sie. Der Blick auf die Weltkarte zeige, dass Ernährungsunsicherheit ungleich verteilt sei. Doch auch innerhalb der Länder seien bestimmte Bevölkerungsgruppen besonders stark betroffen.
Auch Länder, die selbst Agrargüter in hohem Umfang exportieren, hätten mit Hunger zu kämpfen, sagte Schneider. Grund dafür sei, dass Hunger in den meisten Fällen nicht durch einen realen Mangel an Nahrung entstehe, „sondern als Folge von Armut, Konflikten, sozialer Benachteiligung, Diskriminierung oder Vertreibung“. Indigene, Black and People of Color, kleinbäuerliche Familien, von Frauen geführte Haushalte sowie einkommensschwache Familien mit kleinen Kindern seien unverhältnismäßig stark betroffen. Der Kampf gegen Hunger sei also gleichzeitig der Kampf gegen Ungleichheiten, sagte sie.
Die größte Herausforderung, um den Hunger zu überwinden, ist es laut Marlehn Thieme, die politischen Willensbekundungen in die Tat umzusetzen. Zentrale Hebel wie funktionierende staatliche Institutionen und die Förderung ländlicher Räume sowie sozialer Sicherungssysteme bedürften Investitionen, sagte die Präsidentin der Deutschen Welthungerhilfe. Die richtungsweisende, vereinbarte offizielle Entwicklungshilfe von 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens (BNI) von Geberländern werde aber nicht eingehalten.
Noch schlechter bestellt sei es um das 0,2-Prozent-Ziel des BNI für LDCs, die „least developed countries“ oder am wenigsten entwickelten Länder. Während Deutschland das 0,7-Prozent-Ziel bisher noch erreiche, sei dies für das 0,2-Prozent-Ziel nie der Fall gewesen, sagte Thieme.
Auf die Folgen „einseitiger Sanktionen und Zwangsmaßnahmen“ für die Menschenrechte und die humanitäre Hilfe verwies Alena Douhan, Sonderberichterstatterin der Vereinten Nationen zu den negativen Auswirkungen einseitiger Zwangsmaßnahmen. Douhan berichtete von Erfahrungen aus Venezuela, Simbabwe und Syrien, wo gegen das Land gerichteten Sanktionen ausgeprägte negative Auswirkungen sowohl auf die Wirtschaft wie auch auf die Bevölkerung gehabt hätten. Laut Douhan sind nach dem Völkerrecht einseitige Sanktionen und Zwangsmaßnahmen nur dann erlaubt, wenn sie vom UN-Sicherheitsrat legalisiert seien oder als Gegensanktion eingesetzt würden. Sie dürften aber keinesfalls Pflichten der Staaten oder fundamentale Menschenrechte verletzen.
www.praeventionstag.de
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